Für eine Premiere war der Applaus vergleichsweise verhalten. Zu Unrecht. Am Samstag gab es im ausverkauften Schauspiel Leipzig mit „Gespenster oder Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ die neue Inszenierung von Philipp Preuss zu erleben, gut drei Stunden, in denen der Regisseur sich erneut an der „Erforschung einer ästhetischen Traumlogik, einer künstlerischen Traumgrammatik“ (Preuss) versucht hat. Und das mithilfe Henrik Ibsens.
Auf dessen „Peer Gynt“, von Preuss im letzten Jahr auf der großen Bühne inszeniert, folgen dort jetzt also die „Gespenster“. Womit der epische Atem des „dramatischen Gedichts“ von jenem Röcheln bürgerlicher Erstarrung abgelöst wird, das auch heute noch in diesem 1882 uraufgeführten „Familiendrama in drei Akten“ gruselt.
Durch einen dunklen Schleier ist auf der Bühne eines jener Interieurs zu sehen, wie man sie von den Bildern eines Vilhelm Hammershøi oder Félix Vallotton kennen mag. Was in jenen allerdings nur unterschwellig zittert, ist hier ins Überdimensionierte gewuchert mit einer hochaufragenden Holztäfelung, vor der das authentisch bürgerlich gekleidete Personal eines späten 19. Jahrhunderts als Gruppenbild der seelischen Schrumpfexistenzen aufscheint.
Eine Anmutung, ein Setting (Bühne, Kostüm: Ramallah Aubrecht), in dem sich jene intendierten Verzerrungen hin ins Alptraumspiel geradezu organisch (und das meint: traumlogisch) entfalten können; das dem Personal des Stücks die Natürlichkeit des Gespenstischen, eine Realität abseits des Realistischen garantiert.
An irgendeinem Fjord im Dauerregen
Darin allen voran – oder als Zentrum mittendrin – Frau Helene Alving, die sich wieder und wieder mit grotesken Gymnastikeinlagen aus jener schon kataleptischen Starre zu befreien sucht, in die sie zugleich wieder und wieder flüchtet. Anna Keil gibt diese Figur als ein Interieur in Blond, als Gespenst aus Fleisch und Blut, kontrolliert am Kontrollverlust balancierend, in fiebrig unterkühlten Spasmen.
Helene ist die wohlhabende Witwe eines Patriarchen, den sie nie geliebt hat – und sie ist die Geliebte von Pastor Manders (stark, markant: Markus Lerch), der unfähig ist, mit Liebe umzugehen. Und schließlich ist sie noch die Mutter von Osvald, dem Künstler, der von einer Geisteskrankheit zurückgetrieben wird aus Paris; zurück in dieses Gespenster-Heim an irgendeinem Fjord im Dauerregen, wo ihn der Wahnsinn freilich geradezu brünstig und endgültig sowieso in die Arme schließen wird.
Mit der Figur des Osvald nun (Felix Axel Preißler zwischen angstgequält und wahngeborgen) ist hier zugleich das Medium installiert, mit dem Regisseur Preuss Textpassagen aus Daniel Paul Schrebers berühmt-berüchtigten, 1903 erschienenen „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ in seine Inszenierung webt. Beschreibungen des Wahnsinns als Innenansichten eines Wahnsinnigen, die, nicht selten von dunkler Poesie und noch dunkleren Epilepsien eines pathologisch egomanischen Philosophierens, Ibsens Drama geradezu durchfressen.
Videoaufnahmen grasen im Teppich
„Wurmstichig“, so heißt es in diesem, sei Osvalds Hirn. Wurmstichig lässt Preuss Ibsens Stück mit Schrebers Gott-und Weltbetrachtungsdelirien werden. Der Wahn gibt die Perspektive vor, ist das Adäquat zum dunklen Schleier, durch den man auf Bühnenbild und Handlung schaut. Auch dann noch, wenn dieser Schleier irgendwann weggerissen ist. Psychologie, Soziologie, der „Realismus“ Ibsens, die Konventionen der Kausalität sind da längst schon von einer anderen Logik durch- und zersetzt.
Da wiederholen sich Szenen in absurdem Maße, als träte die Inszenierung selbst, wie in einem Alptraum, auf der Stelle. Da zwitschern Darsteller mit Vogelstimmen an der Rampe (Schreber meinte Vögel zu verstehen) oder geistern Andreas Keil und Denis Petkovic als bizarr pantomimische Osvald-Wiedergänger durch die Kulissen.
Videoaufnahmen durchforschen die Winkel des Bühnenbildes, grasen im Teppich, starren in Osvalds Gesicht, als ließe sich irgendwo ein wenig Halt, ein wenig Sinn, vielleicht sogar einer jenseits des Wahns finden (Video: Konny Keller). Und wie Mehltau ist die Kammermusik Kornelius Heidebrechts (live vom Levitation String Quintett); beunruhigend gerade dann, wenn sie beruhigend klingt. Hypnotisch, wenn sie gefährlich pulsiert, am Dissonanten entlang tastet.
Irgendwie unpassend
Faszinierende An- und Innensichten eines Gespenstes in einer Gespensterwelt. Kleine Mankos inklusive. Denn wo schon bei Ibsen der Strang um Tischler Engstrand und des alten Patriarchen uneheliche Tochter Regine als doch arg offensichtlich Deus ex machina klappert, wirkt die dann auch prompt in dieser Inszenierung ähnlich der arg offensichtlich in Osvalds Gesicht festgeklebten Headset-Warze: Irgendwie unpassend.
An Tilo Krügel (Engstrand) und Julia Preuß (Regine) liegt das freilich weniger, wohl aber an jenen Konventionen des bürgerlichen Dramas wie des Gegenwartstheaters, die eben auch noch in der künstlerischen Traumgrammatik dieser Inszenierung geistern. Nichtsdestotrotz ist Preuss mit „Gespenster oder Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ eine gespenstische, denkwürdige Inszenierung gelungen.
Wieder am 5. April, 4., 12., 30. Mai und 9. Juni (jeweils 19.30 Uhr) sowie am 22. April (16 Uhr), Schauspiel Leipzig, Bosestraße 1; Karten und Informationen unter Telefon 0341 1268168
Am Donnerstag feierte „Little Shop of Flowers“ von Copy & Waste Premiere, eine Kritik finden Sie hier.
Von Steffen Georgi