Minister Piwarz, ist das Schuljahr in Sachsen noch zu retten?

Was Sachsens Schülern, Eltern und Lehrern im Corona-Lockdown am meisten auf den Nägeln brennt, wurde am Dienstagabend im LVZ-Talk in der Kuppel des Leipziger Verlagsgebäudes in die Runde mit Kultusminister Christian Piwarz geworfen. Moderator und LVZ-Lokalchef Björn Meine gab Fragen von Lesern und aus sozialen Plattformen an den CDU-Politiker weiter. Als Gesprächsteilnehmer digital in die Runde zugeschaltet waren auch die GEW-Vorsitzende Uschi Kruse, die Leipziger Elternratsvorsitzende Nancy Hochstein und der Schüler Marius Wittwer. Die Veranstaltung fand pandemiebedingt ohne Publikum statt, wurde aber live auf LVZ.de gestreamt – exklusiv für LVZ+Abonnenten. Hier einige Schwerpunkte aus der Runde. Wie kommen die Schüler an ihre Halbjahreszeugnisse? „Wir werden im Laufe der nächsten Woche entscheiden, ob wir verantworten können, zumindest Kitas und Grundschulen am 15. Februar wieder zu öffnen“, sagte Minister Piwarz. Sollte das der Fall sein, bekommen die Kinder ihre Zeugnisse in den Bildungsstätten. Falls nicht, dann möglicherweise auf dem Postweg. Sind Schulen ein Ort erhöhter Ansteckungsgefahr? „Ich bleibe weiter bei der Behauptung, dass Schulen keine Treiber der Pandemie sind“, bekräftigte Piwarz. Das hätten Studien auch in Zeiten erhöhter Infektionszahlen gezeigt. Richtig sei aber auch, dass größere Schüler ähnlich am Pandemiegeschehen teilnehmen wie Erwachsene. Darauf habe man mit erneuten Schulschließungen Mitte Dezember reagiert. Piwarz wehrte sich aber gegen das Stigma, dass in Schulen besonders viel passiere. „Wir sind sicher nicht naiv und blauäugig, müssen aber immer wieder den Spagat hinbekommen zwischen Infektions- und Gesundheitsschutz einerseits und andererseits dem Anspruch, möglichst vielen Kindern möglichst viel an Bildung und Teilhabe zukommen zu lassen.“ Kam die Rückkehr zum Präsenzunterricht der Abschlussklassen zu früh? Der Leipziger Schüler Marius Wittwer bejaht die Frage, obwohl er kurz vor dem Abitur steht. Er hätte sich angesichts der aktuellen Pandemielage „gewünscht, dass man mit dem Präsenzunterricht auch für Abschlussklassen noch bis Mitte Februar wartet“. Ähnlich sehen es Nancy Hochstein vom Kreiselternrat sowie GEW-Chefin Uschi Kruse. Kann Lernsax den Frontalunterricht ersetzen? Zu viele Aufgaben und Arbeitsblätter, zu viel Selbststudium, kaum Videokonferenzen, zu wenig Rückkopplung – das beklagen Eltern und Schüler in sozialen Netzwerken. Gymnasiast Wittwer hält dagegen Fernunterricht „nicht per se für das schlechtere Mittel“. Er sei zufrieden, dass Lernsax mittlerweile halbwegs stabil läuft und hält es „in einigen Fächern für eine schöne Alternative zum normalen Unterricht, wenn man sich in Ruhe zu Hause hinsetzen und seine Aufgaben erledigen kann“. Ein großer Teil der Lehrerinnen und Lehrer wünscht sich, möglichst bald zum Präsenzunterricht zurückkehren zu können, versicherte Gewerkschafterin Uschi Kruse. Zur digitalen Lernform sagte sie: „Ich habe den Eindruck, dass sich die meisten Kolleginnen und Kollegen ganz viel Mühe geben.“ Für den regelmäßigen telefonischen Kontakt fehle aber oft die Zeit. Die Ausstattung mit Computern und schnellem Internet sei sehr unterschiedlich. Der Kultusminister betonte viele „gute Beispiele, wo Lehrer bravourös ihren Job machen“. Es gebe aber auch den einen oder anderen Lehrer, der den aktuellen Maßstäben nicht gerecht werde. Klare Regeln für den Online-Unterricht funktionierten nicht, da jeder frei sei in der Unterrichtsgestaltung. Für den Wechsel von 100 Prozent Präsenzunterricht zu 100 Prozent häuslicher Lernzeit bräuchten Lehrerinnen und Lehrer neben der technischen Ausstattung auch die nötige Zeit. Für einen Hybridunterricht in der nahen Zukunft, also einen sinnvollen Mix aus beiden Lernformen, brauche man „besser als heute geschulte und motivierte Lehrer“. Dafür werde der Freistaat noch mehr in die Aus- und Fortbildung investieren, „weil wir schonungslos aufgezeigt bekommen haben, wo es Defizite gibt“. Christian Piwarz (45). Sachsens CDU-Kultusminister sagt: Wir müssen es schaffen, im Februar die Schulen zu öffnen. Bis Ostern halten die Familien das nicht aus. Der teilweise eingeführte Präsenzunterricht ist nötig, wenn wir faire und gute Abschlüsse anbieten wollen. Nancy Hochstein (34): Die Vorsitzende des Leipziger Kreiselternrats verlangt ein besseres Konzept, um Klassenräume digital abzubilden. Und sie fordert bessere Kommunikation zwischen Lehrern, Eltern und Schülern Uschi Kruse (63): Die Lehrerin und Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sagt: Wenn Schulen und Kitas höchste Priorität haben, müssen Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Kinder und Angehörige besonders geschützt werden. Marius Wittwer (21). Der Leipziger Schüler steht kurz vor dem Abitur und besucht derzeit das Berufliche Gymnasium „Karl Heine“. Er fordert Abstriche bei den Prüfungen für das Abi 2021 und sagt: Ein unkonventionelles Jahr erfordert ein unkonventionelles, faires Abitur. Für eine entsprechende Petition wurden schon über 1200 Unterschriften gesammelt. Warum gibt es keine Rundschreiben an Eltern? Die ganze „Klaviatur der digitalen Fähigkeiten und Fertigkeiten bei Kindern und Lehrern“ sorgt unter den Eltern für reichlich Gesprächsstoff, sagt Nancy Hochstein. Es gebe Haushalte mit guter technischer Ausstattung, „aber auch Kinder, die komplett den Anschluss verloren haben“. Um da eine Mitte zu finden , wünscht sie sich eindringlich einen Newsletter für Eltern und eine Sammlung guter Beispiele aus der Praxis, wie man das ganze System für die Zukunft besser aufstellen kann. Für bessere Lernergebnisse brauche es in der digitalen Welt eine bessere Lernumgebung. „Es reicht nicht, jetzt nur zu hoffen, die Kinder ab 15. Februar wieder in der Schule haben.“ Man müsse genau aufzeigen, was passiert, sollte das eben nicht möglich sein. „Eltern können mehr ab, als man denkt, genauso wie Lehrer: Man muss es nur klar kommunizieren.“ In der Kommunikation könne man noch weiter nachlegen, räumte der Minister ein. Er nehme aus der Runde mit, dass man Informationen aus seinem Hause „noch mal gezielter für die Eltern aufbereitet“. Für Anregungen sei er dankbar – ob ein digitaler Rundbrief dafür die beste Lösung sei, werde man prüfen. Wie soll es im Februar weitergehen – gibt es einen Plan B? „Wir sind ja teilweise kaum in der Lage, einen Plan A zu entwickeln, weil die Situation so hoch dynamisch gewesen ist“, warb Piwarz um Verständnis. Im permanenten Krisenmodus müsse man je nach Pandemiesituation viel nachsteuern. „Wir fokussieren uns auf das Primat: So viel Präsenzunterricht wie möglich.“ Konkret ziele man ab Mitte Februar auf „feste Klassen an den Grundschulen und Wechselmodell an den weiterführenden Schulen, wenn die Inzidenzzahlen das zulassen“, so Piwarz. Wie wird ein fairer Abschluss garantiert? „Bei Klassen, die nicht zum Abschluss kommen, haben wir Zeit, Dinge zu kompensieren“, so Piwarz. Da könne man den Lehrplan nicht durchprügeln. Die Lehrer könnten entscheiden, ob sie den Unterrichtsstoff benoten oder bewerten. Bei den Abschlussklassen wurde der Stoff auf Themen reduziert, die in den Prüfungen eine Rolle spielen. „Das war das erste Zugeständnis, damit die Abschlussklassen besser vorbereitet werden können“, so der Minister. Jetzt fokussiere man den Präsenzunterricht auf eine konsequente Vorbereitung der Prüfungen, in denen es für die Abiturienten 30 Minuten und für die Oberschüler 15 Minuten mehr Bearbeitungszeit geben wird. Es gibt fünf Prüfungsfächer. „Wir möchten, dass Sie einen ordentlichen, anerkannten, gleichwertigen Abschluss machen.“ Die Zweitkorrektur des Abiturs findet in der Schule statt, da die Lehrer wissen, ob der Stoff behandelt wurde und ob es bei der Bewertung möglicherweise Abstriche geben muss. Eine nächste Option wäre, falls der Präsenzunterricht ausgesetzt werden muss: Die Prüfungen könnten ein wenig verlagert werden. Hinzu kommt: Jeder kann einen Erst- oder Zweittermin wählen. „Die letzte Option wäre, sich auf ein Notabitur zu einigen, bei dem es auf die Vornoten ankommt. Das wäre aber nur der Plan C und eine Notlösung, die ich aber nicht will.“ Reichen die Zugeständnisse, oder läuft es doch auf ein Notabitur hinaus? Auf dem Papier klinge das alles gut, wandte Marius Wittwer ein: „Themen, die weggestrichen wurden, kamen in Abschlussprüfungen seit 1990 nicht dran. Da fragen wir uns schon, was dies für Erleichterungen sind.“ Niemand wisse, wie die Pandemie sich entwickle. „Es ist ein enormer Druck für Schüler und Lehrer.“ Uschi Kruse verwies darauf, dass viele in Quarantäne waren, andere gar nicht: „Einige Schüler können gut mit Fernunterricht umgehen, andere werden nicht erreicht. Deshalb können wir den Schulen nur die Möglichkeit geben, eigenständig über Prüfungsaufgaben zu entscheiden – etwa aus einem vorgegebenen Aufgabenpool: „Notabschlüsse sind nicht akzeptabel.“ Ihr Appell: Nicht an der Zentralität festhalten. Sie habe keine Zweifel, dass die jetzige Generation studierfähig sei oder in der Berufsausbildung zurechtkomme. „Bei mündlichen Prüfungen haben die Schulen Autonomie“, entgegnete Piwarz. Zentrale Prüfungen mit einer gezielten Vorbereitung, bei der auch individuelle Defizite ausgeglichen werden können, seien aber wichtig, damit Abschlüsse dann auch gleichwertig und anerkannt sind. „Was wir hören, sind immer Laborbedingungen“, so Wittwer. Der Jahrgang brauche individuelle Lösungen, um Lockdown-Ausfälle zu kompensieren. „Schüler brauchen Planungssicherheit. Das ist auch psychisch wichtig.“ Nancy Hochstein: „Das betrifft alle Jahrgänge und alle Kinder.“ Viele sehen Grundschüler gefährdet, die Lesen und Schreiben lernen. Ist es möglich, auf Antrag freiwillig ein Schuljahr zu wiederholen? Laut Piwarz müssten die Lehrer auf den Lernstand schauen und abwägen, ob dieser mit Corona zusammenhängt und später aufgeholt werden kann. „Das Entscheidende ist, dass sich Eltern, Lehrer und bei weiterführenden Schulen auch das Kind an einen Tisch setzen. Wiederholung bedeutet ein komplett neues soziales Umfeld. Das muss man abwägen.“ Im Einzelfall könne man aber so verfahren. Dies werde dann auch nicht auf die Verweildauer angerechnet. Uschi Kruse hält eine Wiederholung der Klasse in Größenordnungen für nicht möglich, weil es in Sachsen nicht genügend Lehrer gibt. Viele Viertklässler haben wenige Noten: Wie kann da eine Bildungsempfehlung erteilt werden? Die Notengebung sei sehr unterschiedlich erfolgt, konstatiert Uschi Kruse: „Die Bildungsempfehlung, die auf Noten basiert, hat seit einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bautzen ohnehin an Bedeutung verloren. Wichtig ist, mit den Schülern und Eltern Gespräche zu führen – gegebenenfalls telefonisch.“ Fakt sei aber, dass die Grundschullehrer ihre Kinder aus den vorangegangenen Jahren kennen. Eine wesentliche Aufgabe sei, sie nicht zu entmutigen. Piwarz: „Bildungsempfehlungen sind kein singulärer Akt. Schon in der dritten Klasse gibt es eine Bildungsberatung. Es kommt auf die Gesamtbewertung an.“ Wie kann der Lernstoff nachgeholt werden? „Das schauen wir uns mit Fachleuten an, wenn wir aus der Krise heraus sind“, kündigt Piwarz an. Bei einer „Lernstandserhebung“ werde dezidiert geschaut, was vielleicht verzichtbar wäre, welche Themen für nicht mehr prüfungsrelevant erklärt werden. Diese Debatte brauche aber Zeit. Wichtig sei, dass auch die nachfolgenden Jahrgänge ihre Abschlüsse machen können. Wie sieht die ideale Schule nach der Pandemie aus? „Die Pandemie hat die negativen Seiten unseres Bildungssystems sichtbar gemacht“, so Schüler Marius Wittwer. Für ihn wäre eine deutlichere Gewichtung zwischen geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern sowie eine individuelle Förderung und mehr Praxis sinnvoll. „Bei der Ausbildung der Lehrer muss die Bildung in einer digitalisierten Welt ebenso stärker in den Fokus rücken, wie die Frage, wie sie mit unterschiedlichen Schülern umgehen“, ergänzt Uschi Kruse. Benachteiligte Schüler gab es schon vorher, die müssten endlich besser gefördert werden. „Ich wünsche mir kleinere Klassen, in denen wir das einzelne Kind mehr in den Blick nehmen können.“ Nancy Hochstein: „Die ideale Schule der Zukunft hat mehr Platz, mehr Grün, mehr Personal, legt mehr Wert auf Medienkompetenz und längeres gemeinsames Lernen.“ Ein gesundes Lernumfeld und Bewegung müssten eine größere Bedeutung bekommen. Für Piwarz kommt den Pädagogen eine größere Rolle zu, die Schüler begleiten und anleiten, sich auch Dinge selbst zu erarbeiten und Fortschritte zu erzielen. „Digitalisierung ist eine Hausaufgabe, die wir lösen müssen“, so der Minister. Die vor der Pandemie begonnene Diskussion „Bildungsland Sachsen 2030“ müsse vorangetrieben und die Lehrpläne müssten neu geschrieben werden. Ist das Schuljahr noch zu retten? „Auf jeden Fall“, sagt Wittwer: „Wir haben noch viel Zeit vor uns. Mir ist wichtig, dass wir keine weiteren Fehler machen, einen Fahrplan aufstellen und über Möglichkeiten nachdenken, falls die Pandemie noch nicht so schnell zu Ende ist.“ Die Lage sei prekär, obwohl die Zahlen sinken. GEW-Landeschefin Kruse: „Das Schuljahr ist nicht verloren gegangen. Es wird Schüler geben, die gestärkt hervorgehen, aber auch welche mit großen Lernrückständen.“ Eine Pandemie habe so noch keiner erlebt. „Wir haben gelernt, mit schwierigsten Situationen umzugehen“, so Nancy Hochstein. Würden die Eltern nicht an die Rettung des Schuljahres glauben, hätten sie längst hingeschmissen. Auch Piwarz warb für Zuversicht: „Es ist kein leichtes und reguläres, aber auch kein verlorenes Schuljahr. Ich bin da zuversichtlich. Das zeigt die Kraft, die in unserem Bildungssystem steckt“, so der Minister. Von Mathias Orbeck und Winfried Mahr