Aufschrei im Kreißsaal: Mütter und Hebammen berichten von Geburten in Zeiten von Corona

Ein letztes Mittagessen im Grünen, ein letzter Kuss, eine letzte Umarmung: Als sich Johanna Sigmund* am 6. Mai im Park des Klinikums St. Georg von ihrem Mann Markus verabschiedet, ist ihr nicht nur schwer ums Herz. Ihr steht die Einleitung der Geburt ihres ersten Kindes unmittelbar bevor. Wie lange es dauern wird, bis die Wehen einsetzen und die Entbindung beginnt, bis sie ihren Mann wiedersehen kann, ist ungewiss. Ein schwerer Moment. Die Last der vergangenen Wochen – mit all den Nachrichten über den gefährlichen Virus, die Angst um das ungeborene Kind, die Sorge um die eigenen Eltern, die Furcht, möglicherweise allein im Kreißsaal zu sein, das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren und die Diskrepanz, Nähe spüren zu wollen, aber nicht zulassen zu dürfen – hat ihre Spuren hinterlassen. Trost wäre schön – doch Markus ist nicht da: Verunsichert betritt die junge Frau die Entbindungsstation. Sie bekommt ein Mittel, das Wehen auslöst. Jetzt heißt es warten, Luft holen, lange ausatmen. Das CTG (Kardiotokogramm) misst die Stärke der Wehen. Manche bezeichnen sie als Höllenritt. Andere vergleichen sie mit einem Marathon: kräftezehrend und sehr schmerzhaft. Trost wäre jetzt schön. Doch Markus ist nicht da. Lesen Sie auch: Corona: Leipzigs Kliniken lockern Besuchsregeln Berührungen regulieren Beziehungen, sie sind biochemischer Klebstoff. Über die Körperkommunikation transportieren wir nicht sprachliche Informationen von Sympathie über Vertrautheit bis hin zu Wertschätzung, Mitgefühl oder Trost, beispielsweise wenn wir jemanden kurz an den Arm fassen. „Unser Beruf lebt davon, dass man sich sieht und anfasst“: Doch im Kreißsaal sind gerade alle maskiert – Gebärende und Hebammen. Umarmungen sind gerade tabu. „Unser Beruf lebt davon, dass man sich sieht und anfasst“, sagt Dorothee Berger. Seit 18 Jahren praktiziert sie als freiberufliche Hebamme. 20 Schwangere und zwölf Wöchnerinnen betreut sie gerade. Der persönliche Kontakt zu ihnen ist Dorothee Berger sehr wichtig: „Ich biete zwar auch Video-Chats zur Geburtsvorbereitung an, dennoch gehen mir die Hausbesuche über alles. Wöchnerinnen, die das erste Kind bekommen und keine Erfahrung haben, die gerade allein sind, weil sie keine Mutter, Großmutter oder Freundin besuchen kann, brauchen jetzt mehr denn je Unterstützung. Die Empfehlung, die Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren, ist in meinem Beruf wohlfeil. Ich lebe von diesen Kontakten.“ Auch die Maskenpflicht im Kreißsaal geht ihr zu weit: „Eine Geburt ist schwere, körperliche Arbeit. Unter der Maske Schwerstarbeit.“ Die Luftnot ist das eine, das Gefühl von Alleingelassensein das andere. Eine normale Geburt dauert zwischen zwei und 18 Stunden, bei schwierigem Verlauf auch länger. „Bei einer Geburtseinleitung, die sich unter Umständen über mehrere Tage hinzieht, ist die Trennung vom Partner oder der Partnerin gerade besonders schwer. Da gab und gibt es schon mal Tränen des Abschieds“, sagt Alexandra Kluge, Vorsitzende des Hebammen-Kreisverbands Leipzig. Besuchsverbot verkürzt das gemeinsame Glück: 15 Stunden atmet Johanna Sigmund Wehe um Wehe weg – wie sie es mit ihrer Hebamme Dorothee Berger via Online-Kurs trainiert hatte. Von Wehental zu Wehenberg und wieder von vorn. „Die Hebammen im St. Georg waren besonders einfühlsam und verständnisvoll. Ihnen war die Ausnahmesituation bewusst, und sie haben mich nicht aus den Augen gelassen und mich nach allen Kräften unterstützt“, sagt die 36 Jahre alte Frau. Zwei Stunden vor der Geburt, am 7. Mai um 7.30 Uhr, darf dann auch endlich ihr Mann Markus dazukommen – mit desinfizierten Händen, Mund-Nasen-Schutz und unter strengsten Auflagen – unter anderem darf er den Kreißsaal nicht verlassen... So erleben beide um 9.30 Uhr die Geburt ihrer Tochter Marie*. Doch das Glück währt nur kurz. Nach drei Stunden muss Markus den Kreißsaal und die Klinik verlassen. Die sächsische Allgemeinverfügung zur Verhinderung der Verbreitung des Corona-Virus sowie die daraus resultierenden Verordnungen für die Krankenhäuser lassen nichts anderes zu. Videos vom Neugeborenen an die ganze Familie: Seit Corona ist es ruhig geworden auf den Wochenstationen der Leipziger Geburtskliniken und in den Geburtshäusern der Stadt. Es gilt Besuchsverbot. Johanna Sigmund, die sich eigentlich ob der Option, sich nach der Geburt ein Familienzimmer mit ihrem Mann teilen zu können, für das St. Georg entschieden hat, landet allein mit ihrer Tochter auf Station. „Rein rational kann ich die Maßnahme verstehen – kein Besucher kann dadurch Viren, Bakterien und Keime einschleusen. Emotional war es aber belastend. Ich habe Videos gedreht und über Whatsapp an meinen Mann und seine Familie sowie meine Eltern und meinen Bruder geschickt.“ Mittlerweile gebe es erste Überlegungen, auf den Wöchnerinnen-Stationen generell wieder strengere Besuchszeiten einzuführen. Viele Kliniken, sagt Dorothee Berger, hätten bemerkt, dass die jungen Mütter weniger gestresst seien, sich mehr auf ihre Kinder konzentrieren und ihren Rhythmus nicht nach den Besuchern richten würden. Ambulante Geburten gelten derzeit als erstrebenswerte Alternative: Eine andere Entwicklung, die sich gerade zeigt: Die Nachfrage nach ambulanten Entbindungen steigt. „Viele Frauen versuchen gerade, die Kliniken so schnell wie möglich zu verlassen. Sie nehmen noch die U1 mit und machen die U2 und das Stoffwechselscreening bei einem niedergelassenen Kinderarzt“, sagt Hebamme Charlotte Walter*. Doch viele Frauen hätten nicht die Wahl, weil sie aufgrund von Geburtsverletzungen, Früh- oder Mehrlingsgeburten beziehungsweise Neugeborenen mit Handicap länger isoliert auf Station bleiben müssten. Sie würden es als großen Nachteil empfinden, dass ihre Partner die ersten Tage ihrer Kinder nicht miterleben könnten. Rachenabstrich kurz vor der Geburt: Kurzen Prozess hat auch Jasmin Schaller* gemacht. Als sie am 30. April um 2 Uhr mit ihrem Mann Andreas die Frauenklinik der Universität Leipzig ansteuert, stimmt das Timing – die Geburt ist weit fortgeschritten – ihr Mann darf bleiben. Doch bevor sich die Türen zum Kreißsaal öffnen, wird eine Rachenabstrich bei der werdenden Mutter genommen. Bis zu acht Stunden kann es dauern, bevor der Covid-19-Schnelltest ausgewertet ist. Bis dahin heißt es: Mundschutz auf, Augen zu und durch. „Ich hatte Glück, dass mir zur Schmerzlinderung Lachgas angeboten worden ist und ich die Atemschutzmaske somit zeitweise absetzen konnte. Und dass es mein Sohn eilig hatte und nach nur zweieinhalb Stunden zur Welt gekommen ist. Ich hätte keine acht Stunden oder mehr mit der Maske in den Wehen liegen wollen“, sagt die 36 Jahre alte Lehrerin. Max* ist 57 Zentimeter groß, 4180 Gramm schwer und gesund. Doch Vater Andreas bleiben nur zwei Stunden mit ihm. Aus Sicherheitsgründen muss er die Klinik verlassen. „Dieses Mal musste ich mit fremder Hilfe klarkommen“: „Bei unserem ersten Sohn, den ich im St. Elisabeth-Krankenhaus in Halle entbunden habe, haben wir die Tage nach der Geburt gemeinsam in einem Familienzimmer verbracht. Mein Mann hat mich und das Baby umsorgen und versorgen können – unseren Sohn als Erster gewickelt. Dieses Mal musste ich mit fremder Hilfe klarkommen. Die Hebammen und Schwestern waren dabei sehr freundlich und zugewandt. Sie haben gespürt, dass die Wöchnerinnen ihre Familien, den Besuch am Nachmittag, vermissen und dementsprechend selbst versucht, alle bei Laune zu halten und mit aller Kraft zu unterstützen.“ Nach nur knapp zwei Tagen verlässt Jasmin Schaller mit ihrem Sohn die Klinik. Sie geht mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Alle Covid-19-Tests bisher negativ: Max ist eines von 328 Kindern, die seit dem 1. April in der Uniklinik zur Welt gekommen sind. Die Tests ihrer Mütter seien bisher alle negativ gewesen. Auch die Vorsichtsmaßnahmen und zusätzlichen Schutzmaßnahmen seien – nach Angaben von Prof. Holger Stepan, Direktor der Geburtsmedizin am UKL – von den werdenden Müttern sehr gut angenommen worden: „Wir haben seit Beginn der Corona-Krise bis heute faktisch Normalbetrieb im Kreißsaal.“ Alltäglich ist für Jasmin Schaller und ihre Hebamme Charlotte Walter gerade nichts. Heute begegnen sich beide Frauen beim Hausbesuch in obskurer Aufmachung: Die Hebamme im Laborkittel der Bio-Lehrerin, mit Mundschutz und Handschuhen. In dieser Aufmachung zeigt sie Rückbildungsübungen oder wiegt das Baby. „Eine verrückte Zeit“, sagen beiden Frauen und atmen durch. Dieses Mal ohne „Aaaah“ und „Ooooh“. *Namen geändert Welche Regeln gelten in Leipziger Kliniken? Kann ich mich noch spontan für ein Geburtshaus entscheiden? Und wer darf wen wann besuchen? Informationen dazu finden Sie hier: Lesen Sie auch: Entbinden in Leipzig: Was werdende Eltern gerade wissen müssen Von Simone Liss