Corona: Der Lockdown raubt Jugendlichen einen entscheidenden Teil ihres Lebens

Sie versäumen gerade ihre Jugend – Senta, Hannes, Lucca, Johann und Ferdinand. Die Fünf stehen stellvertretend für rund 30 000 Teenager in Leipzig, die seit einem Jahr in einer Corona-Blase leben. Abgeschirmt von allem, was die Pubertät ausmacht: ausprobieren, abnabeln, rebellieren. Das Wildeste ist stattdessen Gassigehen mit dem besten Freund und seinem Hund. „Mir fehlen Konzerte“, sagt Senta. „Mir fehlt das Basketballtraining“, sagt Ferdinand. „Mir fehlt das Partymachen“, sagt Johann. „Mir fehlen gemeinsame Touren mit Freunden, loszufahren und irgendwo anzukommen“, sagt Hannes. „Mir fehlen meine Fechtturniere“, sagt Lucca. Die 13 Jahre alte Leistungssportlerin trainiert gerade online zu Hause – und malträtiert Tag für Tag ihr Stoßkissen. „Das ist sehr öde und eintönig. Ich möchte mich richtig auspowern, meine Grenzen austesten. Ich möchte mich mit anderen messen, in andere Städte fahren, Trainingskameraden treffen.“ Was Lucca über die Zeit trägt: „Musik. Und meine beste Freundin, die in der Nachbarschaft wohnt.“ Im Warteraum des Lebens: Musik hilft. Das sagen sie alle. Metal, Punk, Deutsch-Rap – Hauptsache laut, derb, anders als alles andere. Ein Statement: Ihr könnt uns mal. Ihr – das sind Eltern, die ob der Ordnung im Jugendzimmer nörgeln; Lehrer, die nicht wertschätzen, dass man am Ball bleibt; Nachbarn, die wegen der Zimmerlautstärke an die Decke klopfen; Großeltern, die die ewige Leier „Was soll nur aus Dir werden?“ drehen. „Mein Leben fühlt sich seit Monaten so an, als säße ich im Warteraum und wüsste nicht, wann man endlich drankommt“, sagt Senta. „Man kann mit diesem Lockdown leben. Aber es ist ein Scheiß-Leben. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte.“ Sätze einer 15-Jährigen. Das Problem, das viele Teenies haben: Sie verbringen die Zeit im Warteraum nicht mit ihren Freunden, sondern mit Eltern, die eher Boomer als Bros sind. Die Zeit in diesem Warteraum vergeht zudem langsamer als für Erwachsene, weil Jugendliche Zeit anders erleben und weil das, was Freude in ihr Leben bringt, fehlt: Sprachreisen, Tanzstunden, Abschlussbälle, Partys, Konzerte, Clubbesuche, Sportcamps. „Teenager-Jahre sind kurz und man kann sie nicht aufholen. Für meinen Sohn ist das Leben jetzt, nicht morgen“, sagt Julia Möbius. Ihre Kinder, fünfzehn und zwölf, erlebt sie gerade reizbarer als sonst. „Ich bin so froh, dass sie sich als Geschwister haben und nicht noch allein sind, aber es ist Tag für Tag eine Herausforderung. Seit dem Lockdown steigt ihr Medienkonsum. Außerdem ist ihre emotionale Reißleine sehr kurz. Verständlich – sie sind zu dicht an uns Eltern dran und können gerade nicht ihren eigenen Weg gehen.“ Was die 46-jährige Geschäftsfrau, die seit einem Jahr von Zuhause aus arbeitet, tief bewegt: „Wir Erwachsene haben die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, wenn man geduldig ist, wenn man durchhält und sich nicht unterkriegen lässt. Aber unseren Kindern fehlt dieser Weitblick.“ Angst vor Leere und Langeweile: Die Pubertät, die entwicklungspsychologisch eine zentrale Zeit des Freischwimmens und Abgrenzens ist, dauert vier bis fünf Jahre. Corona streicht davon ein Viertel weg. Man kann diese Zeit nicht nachholen. Wer jetzt nicht rebelliert, rebelliert nie wieder? Ein fataler Irrtum, fürchtet die Leipziger Krisenmanagerin Christiane Darlatt. Ihrer Meinung nach hat das Jahr Corona die Generation Z in zwei Gruppen gespalten: „Die Fraktion Creatives, die an sich glaubt, den Weg der Selbstverstärkung einschlägt und ihren Änderungs- und Gestaltungswillen vertritt. Und die Fraktion Entitlement, die permanent Ansprüche generiert, und sich nun betrogen fühlt um das, was ihr ihrer Meinung nach zusteht – Konsum, Spaß, Sorglosigkeit.“ Letztere Gruppe verharre in einer gefährlichen Passivität, die in Aggression umschlagen könne, wenn der Strom von Konsum- und Unterhaltungsangeboten abebbt. „Ich beobachte schon jetzt, dass viele Jugendliche und Erwachsene Angststörungen haben: Angst vor Leere, Langeweile, uneingelösten Versprechen, vor Stillstand. Diese dystopische Haltung untergräbt unser Wertesystem, unseren Glauben an die Gemeinschaft, an Solidarität. Das sehe ich mit Sorge.“ Kürzlich schickte Julia Asbrand, Psychologin an der Humboldt-Universität Berlin, im Namen von 173 Kolleginnen und Kollegen einen offenen Brief an die Bundesregierung, in dem sie nach Informationen der Süddeutschen Zeitung schrieb, dass Kinder- und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeuten bei jugendlichen Patienten vermehrt Aggressionen, Schlafstörungen, Schulängste, Essstörungen, Depressionen und Drogenmissbrauch wahrnehmen. Die Konsequenzen spüren die Krankenkassen. Wie die Barmer jüngst mitteilte, gingen bei ihr im Corona-Jahr 2020 insgesamt 6,3 Prozent mehr Anträge von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 24 Jahren ein als im Vorjahr – insgesamt 44 000. Meist waren laut Arztreport Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen ausschlaggebend. Hotline des Leipziger Amts für Jugend und Familie sowie des Amts für Schule: 0341 123-4 Stiftung Deutsche Depressionshilfe: www.deutsche-depressionshilfe.de Info-Telefon-Depression: 0800 3344533 Suche nach Beratungsstellen, bundesweit: www.dajeb.de Nummer gegen Kummer: telefonisch unter 116 111 oder www.nummergegenkummer.de Online-Beratung für Jugendliche: www.jugendnotmail.de Mailberatung in Krisen und bei Suizidgedanken: www.u25-deutschland.de Feiern, Fliegen, Fechten: Auch Kristina Gerlach, Psychologische Beraterin und Mutter von drei Kindern im Alter zwischen 13 und 24, nimmt diese Entwicklung im beruflichen und privaten Umfeld wahr: „Die Erfahrungen, die Jugendliche in ihren Peergroups machen, sind wichtig für diesen Lebensabschnitt. Sie sind nicht nachzuholen und auch durch nichts zu ersetzen. Die negativen Folgen für die psychosoziale Entwicklung, die sich jetzt bei Jugendlichen recht deutlich zeigen, sind oftmals an Rückzug, Isolation und Unsicherheit erkennbar.“ Schachspielen, Kochen, Reden – damit holt Martin Seffner, Schulleiter und Vater, seinen Sohn aus dem Tief. „Wichtig ist jetzt, dass Eltern wahrnehmen, was ihre Kinder bewegt, und dass sie die Beziehung zu ihren pubertierenden Kindern nicht verlieren. Unabhängig davon bin ich überzeugt, dass Jugendliche strapazierfähiger sind, als Erwachsene denken, und dass sie das Corona-Jahr unbeschadet überstehen werden.“ Für die Zeit danach haben Senta, Hannes, Lucca, Johann und Ferdinand bereits Pläne. Senta will „fett Shoppen und asiatisch Essen gehen“, Hannes will seine Masken wegwerfen und „irgendwo am See mit 50 Leuten Campen und Feiern“, Ferdinand will nach Fuerteventura fliegen, Johann seinen ersten Gig haben und Lucca ein richtiges Gefecht austragen. Auf dass all ihre Träume in Erfüllung gehen! (Die Nachnamen der Teenager sind der Redaktion bekannt, wurden aber zum Schutz der Persönlichkeit nicht genannt.) Von Simone Liss