Fleischverzicht in der Familie: Hilfe, mein Kind ist Vegetarier

„Ich finde es nicht gut, dass die Tiere, die wir nicht essen, grundlos weggeworfen werden. Würden wir diese Tiere, die wir wegwerfen, einfach nicht züchten, hätten wir auch mehr Landfläche für unser Essen“, stellt Elias, gerade einmal 13 Jahre alt, nüchtern fest. Seit seinem achten Lebensjahr lebt er vegetarisch: „Zum einen wegen Mama, und weil ich keinen Sinn darin sehe, Fleisch zu essen. Es beeinträchtigt mein Leben in keinster Weise.“ Also keine Fischstäbchen, keine Bratwürstchen. Er trägt nicht einmal Lederschuhe. Seine Mutter lebt ebenfalls vegetarisch und auch Schwester Lina (acht Jahre alt) hat sich angeschlossen, weil „ihr die Tiere so schrecklich leid tun“. Kinder sind Vegetarier, Vater isst Fleisch: Das Pikante daran: Vater Christian Sporleder ist Koch aus Leidenschaft – und isst Fleisch. Aber recht wenig. „Wir sehen das Ganze nicht dogmatisch. Wir haben auch kein Problem damit, dass andere Fleisch essen. Aber wir für uns als Familie haben entschieden, gar keins, beziehungsweise ganz wenig zu essen“, erzählt er. Ein paar Wiener Würstchen bunkert er schon mal für sich im Kühlschrank. Als Küchenchef des Medienhauses Leipziger Volkszeitung und Inhaber des Catering-Unternehmens „CSpice“ hat er viel mit Fleisch zu tun und setzt sich mit dem Thema dauerhaft auseinander. „Ich halte es für wahnsinnig, wie viel Fleisch die Menschheit so verzehrt, und wie billig es geworden ist.“ Daher findet sich auf seiner Menükarte jeden Tag auch ein vegetarisches Gericht. „Ich merke, dass die vegetarischen Gerichte immer besser angenommen werden. Es hat bereits ein Umdenken stattgefunden“, weiß er aus Erfahrung. Schwierigkeiten im Kindergarten: Für seine Kinder ist es mittlerweile das Normalste von der Welt, auch wenn es manchmal nicht ganz einfach für sie ist. Im Kindergarten war es schwierig, vegetarische Kost für Lina zu bekommen, auf Ausflügen muss sie oft selbst Aufklärung leisten. Elias geht derweil sehr souverän mit dem Thema um. Mittlerweile ist er sogar auf Hafermilch umgestiegen: „Wenn Kühe auf die Weide dürften, nicht so hochgezüchtet würden und ein längeres Leben hätten, so wie es für Kühe normal ist, hätte ich kein Problem mit Milch. Aber so läuft es ja leider nicht.“ Nein, so läuft es in der Masse gesehen nur in den seltensten Fällen. So problemlos wie in dieser Familie läuft es allerdings auch selten. Oft gibt es Probleme, wenn nicht mehr gegessen wird, was auf den Tisch kommt und fleischliebende Eltern die Entscheidung ihres Kindes als „Macke“ abtun. Hinzu kommt die Sorge vor Eisenmangel und allgemeiner Fehlernährung. „Fleischverzicht kann gut ausgeglichen werden“: Der Leiter des Ernährungsteams und der Ernährungsambulanz der Uniklinik Leipzig, Lars Selig, kann Eltern Entwarnung geben: „Mittlerweile gibt es sehr viele Formen von vegetarischer Ernährung, und der Verzicht auf Fleisch kann gut ausgeglichen werden.“ Außerdem plädiert Selig dafür, den Wunsch des Kindes nach einer Ernährungsumstellung ernst zu nehmen, es zu unterstützen und sich mit dem Thema auseinanderzusetzen: „Das ist immer die beste Prävention vor Essstörungen.“ „Hilfe, wir haben einen Vegetarier!“ wäre eine völlig legitime Reaktion meiner Eltern gewesen, als ich mit zwölf Jahren verkündete, von nun an keinerlei Fleisch- und Wurstwaren mehr essen zu wollen. Stattdessen nahmen sie mich ernst und meine Entscheidung ganz gelassen hin. Ernst nehmen und gelassen bleiben – das hilft dem Kind tatsächlich. Der Jung-Vegetarier wird jeden Tag mit seiner Lebensentscheidung konfrontiert werden. Jeden einzelnen Vegetarier-Witz wird er mindestens 100 Mal hören. Einen Platz in der Welt zu haben, an dem man mit seiner Entscheidung gegen Fleisch auch in jungen Jahren ernst genommen wird, an dem es keine doofen Scherze gibt und an dem einen keiner überreden will, doch wieder Tiere zu essen – das macht Mut, das gibt Selbstvertrauen. Bei allem Verständnis – natürlich hatten auch meine Eltern Sorge, ich würde mich mit voller Absicht mangelernähren. Deshalb ist ein Besuch beim Kinderarzt immer eine gute Idee. Der kann erklären, wie man in der Pubertät an genügend Eisen kommt, wie man tierische Proteine durch pflanzliche ersetzen kann und was sonst noch wichtig ist. Auch hier herrschen allerdings noch Vorurteile. Thematisch passende Internetforen kennen aber meist veganer- und vegetarierfreundliche Arztpraxen. Juliane Groh (37) ist Redakteurin und seit den Neunzigerjahren Vegetarierin. Eltern sollten jedoch die Eisenzufuhr im Auge behalten, so Selig. „Es ist wichtig auf eine Kombination von Lebensmitteln zu achten. Pflanzliches Eisen aus Getreideprodukten kann der Körper am besten in Zusammenhang mit Vitamin C verwerten“, weiß der Fachmann. Es gebe allerdings eine Einschränkung: „Kinder zwischen sechs und 18 Monaten machen eine so rasante körperliche Entwicklung durch, dass fleischliche Eisenzufuhr nur schwer auszugleichen ist. Deshalb sollte man auch Fleisch-Gemüse-Brei zufüttern.“ Empfehlung: optimierte Mischkost: Eine weitere Phase, in der man sich sehr bewusst ernähren sollte, sei die Pubertät. „Gerade Mädchen haben bei Beginn der Menstruation extremen Eisenverlust. Da ist ein Fleischverzicht oft schwer auszugleichen“, gibt der Leipziger zu bedenken. Im schlimmsten Fall träten Blutarmut und eine höhere Anfälligkeit für Infekte auf. Lesen Sie mehr: Vegan essen in Leipzig: 6 grüne Restaurants Die 3 besten veganen Restaurants in Leipzig „Normalerweise empfehlen wir für Kinder und Jugendliche die ‚optimierte Mischkost‘ – ein Konzept, das das Forschungsinstitut für Kinderernährung schon Anfang der Neunzigerjahre entwickelt hat. Diese Kost enthält alle Lebensmittelgruppen, und die Kinder sollten in jedem Fall reichlich pflanzliche Lebensmittel essen. Kinder benötigen bei optimierter Mischkost nur etwa 40 Gramm Fleisch oder Wurst, Jugendliche und Eltern etwa 70 Gramm pro Tag. Je mehr Gruppen der tierischen Lebensmittel aus dem Speiseplan gestrichen werden – also außer Fleisch auch Fisch und schließlich auch Milch –, desto mehr Gedanken muss man sich um die richtige Lebensmittelauswahl machen. Solange die vegetarische Ernährung ausgewogen ist, können Nährstoffe und Eisen relativ leicht ersetzt werden“, erklärt Lars Selig. Von veganer Ernährung für Kinder rät er jedoch ab. Was spricht gegen vegan? Eine vegane Ernährung kann Lars Selig für Kinder und Jugendliche nicht empfehlen, da zu viele Nährstoffe künstlich ausgeglichen werden müssten. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) rät von einer veganen Ernährung für Kinder und Jugendliche ab: „Wer sich dennoch vegan ernähren möchte, sollte dauerhaft ein Vitamin-B12-Präparat einnehmen, auf eine ausreichende Zufuhr vor allem der kritischen Nährstoffe achten und gegebenenfalls angereicherte Lebensmittel und Nährstoffpräparate verwenden“, heißt es. Laktovegetarier verzichten auf Fleisch, Fisch und Eier, nehmen aber Milch und Milchprodukte zu sich. Ovo-Laktovegetarier streichen lediglich Fisch und Fleisch von ihrem Speiseplan, verzehren aber – im Unterschied zu den Laktovegetariern – neben Milch und Milchprodukten auch Eier. Nach diesen beiden Formen leben rund 80 Prozent aller Vegetarier. Veganer meiden alle vom Tier stammenden Produkte. Das wären neben Fleisch auch Fisch, Eier, Milch und Honig. Auch Kleidung aus tierischen Materialien wird häufig abgelehnt. Die vegane Ernährung ist für Kinder ungeeignet und wird sogar als gefährlich eingestuft. Als kritisch gelten unentbehrliche Aminosäuren und langkettige n-3-Fettsäuren sowie weitere Vitamine wie Riboflavin und Vitamin D aber auch Calcium, Eisen, Jod, Zink und Selen. Der Berufsverband für Kinder- und Jugendärzte lehnt Veganismus bei Kindern laut Sprecher Hermann Josef Kahl „kategorisch“ ab. Kahl warnt vor „fatalen Folgen und irreversiblen Schäden“: „Wenn im Gehirn zu wenig Vitamin B und verschiedene Aminosäuren ankommen, kann es zu einer starken Entwicklungsverzögerung der Hirnreife und wichtigen kognitiven Beeinträchtigungen kommen“, so der Kinderarzt. Gewissensbisse wegen Massentierhaltung: Menschen, Tiere und Moral – ein weites Feld. Die meisten von uns finden es normal, Tiere zu essen, kritisieren aber die Massentierhaltung und die industrialisierte Landwirtschaft, die Tiere jeglicher Würde beraubt. Bio-Fleisch kann eine Alternative sein. Jedoch ist es vielen Menschen zu teuer, die Siegel-Vergabe ist nicht immer eindeutig und Bioläden sind manchmal schwer erreichbar. Hinzu kommt das verarbeitete Fleisch in Fertiggerichten, in Restaurants, in der Schulspeisung, in Kantinen, das garantiert nicht bio ist. Viele Menschen haben also ein schlechtes Gewissen, wenn sie Fleisch und Fisch essen. 2018 brannte ein Schweinemastbetrieb im Münsterland ab. 8000 Tiere verendeten qualvoll. 8000 Tiere in einem Stall, das kann man sich gar nicht vorstellen. Aktuell geht der Deutsche Vegetarierbund von rund acht Millionen Vegetariern in Deutschland aus. Das sind rund zehn Prozent der Bevölkerung. Das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) bestätigt diese Entwicklung. Niedrigere Zahlen lieferte dagegen die Allensbacher Markt- und Werbeträger-Analyse: Demnach lag die Anzahl der Menschen in Deutschland, die sich selbst als Vegetarier einordnen, im Jahr 2020 bei 6,50 Millionen. Das waren immerhin 400 000 Personen mehr als ein Jahr zuvor. Konsequent vegetarisch ernährten sich in einer 2014 veröffentlichten YouGov-Umfrage nur 4,3 Prozent der Teilnehmer. Der Lobby-Verein ProVeg berichtet von etwa 1 bis 2 Prozent der Deutschen, die sich rein pflanzlich ernähren, also vegan. Tendenz steigend. Laut einer Untersuchung des Marktforschungsinstitutes TNS aus dem Jahr 2015 essen schon 56 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen bewusst seltener Fleisch. Ein Aufwärtstrend ist deutlich erkennbar. Auch die Anbieterseite passt sich diesem Trend an: Laut Marktforschungsinstitut Nielsen steigt der Umsatz mit Veggie-Produkten im Lebensmitteleinzelhandel und in Drogeriemärkten stetig an. 960 Millionen Euro wurden von 2017 bis 2018 mit veganen und vegetarischen Lebensmitteln umgesetzt. Ein Umsatzplus von 30 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Wir alle kennen die Bilder aus der Massentierhaltung, wissen von der Barbarei auf Schlachthöfen. Tiere, die auf engstem Raum leben, krank sind und mit Antibiotika vollgedröhnt werden, die vor der Schlachtung nicht richtig betäubt werden. Ferkel, die ohne Betäubung kastriert werden. Legehennen, die keine Federn mehr haben („Das Video, wo ich mit ansehen musste, wie kleine Küken geschreddert wurden, daran erinnere ich mich noch immer“, sagt Elias). Auf Hochleistung gezüchtete Milchkühe, die direkt von ihren neugeborenen Kälbern getrennt werden und als Milchmaschine so ausgelaugt werden, dass sie lange vor ihrer normalen Lebenserwartung zusammenbrechen. Masthähnchen, die die letzten zwei Wochen ihres ohnehin kurzen Lebens nicht mehr laufen können, weil die Knochen das Gewicht nicht mehr halten können. Der Beispiele sind viele. Wo kommt das Schnitzel her? Doch welche Konsequenz ziehen wir daraus? „Wir sehen die Bilder in den Medien, haben gegen das günstige Schnitzel per se aber nichts einzuwenden. Fest steht, wer billiges Fleisch aus Discountern kauft, kann nicht erwarten, dass die Tiere artgerecht gehalten wurden“, erzählt Selig, der zudem dafür plädiert, Kindern auch zu verdeutlichen, wo das Schnitzel herkommt, sprich Fleisch als tierisches Produkt wahrzunehmen. Die Anfänge einer vegetarischen Bewegung liegen übrigens in Thüringen und Sachsen. Der Theologe Eduard Baltzer gründete am 21. April 1867 im thüringischen Nordhausen den „Verein für natürliche Lebensweise“ und legte damit den Grundstein in der Geschichte der vegetarisch-veganen Vereine in Deutschland. 1892 schlossen sich mehrere Lokalvereine unter dem Namen „Deutscher Vegetarierbund“ zusammen – und zwar im vegetarischen Gasthaus und Café „Pomona“ in Leipzig. Doch noch regelt der Preis allerorts die Nachfrage. Fleisch ist zu einem der billigsten Nahrungsmittel verkommen. Milch ist billiger als Limonade, für die nur Zucker, Wasser und Aromen zusammengerührt werden müssen. Die Agrarpolitik der Neunzigerjahre, die den Landwirten die „Wachsen oder Weichen“-Richtlinie aufdrückte und zur industrialisierten Landwirtschaft im XXL-Format führte, sorgte für die Verhältnisse, die heute in der Landwirtschaft bestehen und viele kleine Betriebe auf der Strecke bleiben ließ. Billige Produkte: weder gut noch fair: Hinzu kommt das am Mindestpreis orientierte Verbraucherverhalten. Tierische Produkte, die billig sind, können weder gut noch fair sein. Nicht für den Erzeuger und schon gar nicht für die Tiere. „In teureres Fleisch wurde auch mehr hinein investiert. Ich persönlich bin bereit, für gutes Fleisch vom regionalen Fleischer mehr Geld zu bezahlen und dieses auch bewusst zu essen“, sagt Lars Selig. Hier können sich Eltern über geeignete Lebensmittel informieren und finden eine Rezeptdatenbank mit Anregungen für vegetarische Gerichte: www.fitkid-aktion.de und www.fitkid-aktion.de/rezepte Doch gerade das bewusste Essen scheint uns Deutschen abhandengekommen zu sein. Rund 20 Millionen Tonnen Nahrungsmittel werden pro Jahr in Deutschland weggeschmissen. „Schauen Sie sich mal in Radefeld den Gemüsegroßmarkt an. Dort werden Tonnen von Lebensmitteln weggeschmissen, weil sie an dem Tag nicht frisch rausgehen. Dort wird eine Kiste mit Gurken, in der eine krumme liegt, weggeschmissen, weil es billiger ist, als die eine krumme auszusortieren. Wir müssten sensibler mit Lebensmitteln umgehen, es ist ein krankes System.“ Von Annika Ross