Wolfsträne Leipzig: Behutsame Trauerbewältigung für Kinder und Jugendliche

Auf dem Malblock des Mädchens steht ein Satz mit tonnenschwerem Gewicht: „Mein Papi ist tot“ steht da geschrieben, und darunter schweben grau ausgemalte Herzen. Eines von vielen berührenden Zeugnissen, die beim Besuch des Vereins Wolfsträne in Auge und Herz fallen. Es geht um den Umgang mit Verlust, um Bewältigung von Trauer bei Kindern und Jugendlichen, die einen nahe stehenden Menschen verloren haben. Seit Oktober sitzt der Verein zentrumsnah in der Windmühlenstraße – mit mehr Kapazität, um sein Auffangnetz zu spannen. Erst gut drei Jahre ist es her, dass Katrin Gärtner beschloss, aus mindestens zwei Erfahrungen berufliche Konsequenzen zu ziehen. Die eine war der Tod der eigenen Mutter, als sie 14 war. Lange verdrängte sie ihre Trauer, erst mit 30 spürte sie, „dass da was nicht in Ordnung war“ und ließ sich therapieren. Der zweite Punkt: ihre Begegnung mit einem Mädchen, das spürbar nicht in der Lage war, den Verlust eines Elternteils aufzuarbeiten. „Mir war klar: Wenn sie keine Hilfe bekommt, geht es ihr in ein paar Jahren so wie mir“, sagt Gärtner rückblickend. Keine Hilfe von Anwälten: Sie beschloss, einen Verein zu gründen, der jungen Menschen Wege zur Bewältigung zeigt. Schon im Vorfeld ragte eine Hürde auf. „Für das Erarbeiten einer Satzung bekam ich von Anwälten nur Absagen, keiner hat sich dafür interessiert“, erzählt Gärtner. Also machte sich die ausgebildete Kinderkrankenpflegerin selbst fit, besuchte einen themenbezogenen Kurs an der Volkshochschule – und schrieb die Satzung allein, die anstandslos genehmigt wurde. Nach einer Ausbildung zur Trauerbegleiterin für Kinder und Jugendliche begann sie die Wolfstränen-Arbeit im April 2017 mit zwei Kindern. Bald entdeckten Hospize, Palliativstationen, das Kriseninterventionsteam oder die Polizei, dass in akuten emotionalen Fällen Katrin Gärtner die richtige Ansprechpartnerin war. Das machte schnell Vergrößerungen nötig – vom angemieteten Zimmer im Budde-Haus über Räume eines Bestattungsunternehmens bis hin zum neuen Domizil in der Windmühlenstraße mit 140 Quadratmetern. Sonderpreis der Kanzlerin: Noch im Gründungsjahr erhielt die heute 39-Jährige einen starken Rückenwind, der sie selbst überwältigte: Aus den Händen von Angela Merkel erhielten die Vorsitzende und ihre Stellvertreterin Julia Enoch den „Startsocial Sonderpreis der Bundeskanzlerin“, dotiert mit 5000 Euro. Im Gespräch lässt Gärtner die Adelung unter den Tisch fallen, ebenso wie weitere Auszeichnungen. „Für mich persönlich ist es viel schöner und wichtiger, wenn mich die Kinder mit ihren strahlenden Augen anschauen und ich darin sehe, was sie alles bewegt.“ Mittlerweile verteilt sich die Arbeit der Wolfsträne auf zweieinhalb Stellen sowie die Schultern von 32 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Aktuell betreuen sie 160 Trauernde zwischen vier und 21 Jahren, die Geschwister oder Elternteile verloren haben – durch Krankheit, Unfall, Suizid. Die Verkrampfung lösen: In drei unterschiedlich gestalteten Zimmern bietet die Wolfsträne die Freiheit, das Geschehene aus der Verkrampfung zu holen, in die die Gesellschaft noch immer verfällt, wenn es um den Tod geht. Der Raum „Haus am See“ atmet Weite und Helligkeit, hier finden die Gruppentreffen statt. „Waldspaziergang“ nebenan ermöglicht haptische Erlebnisse durch Steine, Pilze, eine Mooswand oder Fell. Und „1001 Nacht“ lädt zum Gedankenflug unterm Sternenhimmel aus Leuchtdioden ein. Auf dem Boden sitzt ein flauschiger schwarzer Panther, dessen Rückgrat locker verkraftet, dass eine Stofffigur auf ihm reitet, die den Tod symbolisiert. Die Mittel zur Verarbeitung sind so verschieden wie Entwicklungsstand und mentale Verfassung der Schützlinge. Ältere wollen vor allem reden – mal einzeln, mal in der Gruppe. Jüngere können die Traurigkeit eher spielerisch kanalisieren und öffnen sich durch Singen, Basteln oder Malen. Da werden Truhen für Erinnerungen gestaltet oder Steine, auf Wunsch sogar der Sarg des Verstorbenen als aktive, sehr bewusste Abschiednahme. Kinder nicht in Watte packen: Manche Erwachsene irritiert das ebenso wie sie es ablehnen, Kinder mit zum Begräbnis zu nehmen. Gärtner sieht das kritisch. „Die Kleinen in Watte zu packen, unterdrückt ihre Auseinandersetzung mit Sterben und Gehenlassen“, warnt sie. Auf Wunsch gehen Begleiter auch den Weg ins Hospiz oder zum Totenbett mit den Kindern mit. Kann die Begleitung schon vor einem nahenden Todesfall beginnen, ist das psychologisch besonders wirkungsvoll. Lesen Sie auch Diese Leipziger Vereine springen Kindern zur Seite Diese Leipziger Projekte bewerben sich um Porsche-Millionen All das finanziert sich ausschließlich aus Spenden und mit Hilfe von Sponsoren. Mit dieser Unterstützung konnte im April eine Außenstelle in Torgau realisiert werden, außerdem gab es in den beiden vergangenen Sommern Ferienfreizeiten in einer Balance aus unbeschwerten Erlebnissen und Zulassen von Schmerz. Wie wichtig die Arbeit der Wolfsträne ist, sieht Katrin Gärtner an der wachsenden Zahl von Anfragen. Und natürlich durch Blicke in die jungen Gesichter. „Auch wir lernen viel aus den Schicksalen und den Begegnungen“, sagt sie. Unter anderem, das Unwichtige vom Wichtigen zu unterscheiden. www.wolfstraene.de Von Mark Daniel