30 Jahre Einheit: Zwei Leipziger erzählen zwei Geschichten

Über Dirk Ohlers Urlaubsreise im Frühling 1992 lag meist ein Vorhang aus Regen. Erfurt, Weimar und Dresden bei Nässe. „Nur in Leipzig schien die Sonne, das war regelrecht symbolisch“, erinnert er sich. Ehrfürchtig stand der junge Mann, hinter dem gerade der Abschluss seines Bankfachwirt-Studiums lag, vor dem Prachtbau der Deutschen Bank am Martin-Luther-Ring und formte einen Wunsch: eines Tages in diesem Gebäude zu arbeiten. 28 Jahre später, im Umfeld von 30 Jahren Deutscher Einheit, spricht der 56-Jährige über Erfüllung, alte Ost-West-Klischees, Erfahrungen und die Magie der Stadt. Wer Anfang der 1990er als Westdeutscher sein Umfeld davon in Kenntnis setzte, in den Osten zu ziehen, kassierte Ungläubigkeit und Skepsis. „Was willst du denn in Dunkeldeutschland?“ – diese Frage bekam auch Ohler zu hören. „Auf diese Klischees haben nur Leute zurückgegriffen, die Leipzig nicht kannten“, sagt er lächelnd. Die Neugier auf eine unbekannte, magnetisierende Stadt im Aufbruch zog den im westfälischen Unna Geborenen an die Pleiße. Damals geriet die Spezies Wessi gelegentlich in einen doppelten Abwehrmodus gegen Vorurteile: In der alten Heimat galt es die neue zu rechtfertigen – und in der neuen Überzeugungsarbeit zu leisten, dass nicht alle Alt-Bundis Klugschwätzer und Abzocker sind. In Ohlers neuer Wohnung in Leipzig-Schleußig verstummten schon mal die Treppenhausgespräche, wenn er das Gebäude betrat. Das änderte sich, als der leidenschaftliche Kuchenbäcker eines Tages bei den Nachbarn mit Apfelkuchen vor der Tür stand und sich quasi auf einen Kaffee einlud. „Diese Zusammenkunft werde ich nie vergessen“, betont er dankbar. Ihm gegenüber saß ein Ehepaar Ende 50, nach der Betriebsabwicklung ohne Arbeit und Hoffnung. „Sollte eine Erdung meinerseits notwendig gewesen sein, so habe ich sie dort erhalten“, sagt Ohler. „Ich habe verdammt viel gelernt in dieser Zeit.“ Eine Zeit, die für ihn aus übermäßig viel Arbeit bestand. Konteneröffnungen, Existenzgründungen im Handwerk, Vergabe von Krediten und die Betreuung von Kunden fraßen wöchentlich rund 60 Stunden, Feiertage manchmal inbegriffen. Und dann war da noch die nervenaufreibende Zeit 1994, als der Kreditbetrug von Baulöwe Jürgen Schneider aufflog und dadurch Handwerkern Lohn und Aufträge wegbrachen. In Zusammenarbeit mit der Handwerkskammer zu Leipzig wurden erfolgreich Maßnahmen erarbeitet, um eine Konkurswelle zu vermeiden. Ende 1993 entschloss sich Ohler, seine Zelte am Bodensee, wo er zuletzt lebte, abzubrechen. Die Kombination – 60 Stunden pro Woche arbeiten, am Freitag nach Hause an den Bodensee und sonntags zurück nach Sachsen fahren – tat ihm nicht gut. Er wollte Leipzig als Lebensmittelpunkt – und zwar von Montag bis Sonntag. Ohler, ein chronisch Neugieriger mit ansteckendem Lachen, erkundete die Befindlichkeiten der Ost-Seele, sog Lebensgeschichten und Schicksale auf. Fasziniert verfolgte er die Verwandlung Leipzigs: das Wachstum der Kneipenszene, die Sanierung von Gebäuden, das Aufblühen von Stadtteilen, Ansiedlung von Betrieben. Mit RB Leipzig als Bundesligist ging für den Fußballfan ein weiterer Wunsch in Erfüllung. Nun kickt ein Spitzenteam quasi vor seiner Haustür. Ohler ist Leipziger mit Haut und grau gewordenen Haaren. „Ich bin stolz, in dieser Stadt zu leben“, schwärmt er. Wer ihn in all den Jahren zum ersten Mal besuchte, bekam eine private Stadtführung. „Zu Anfang war ich der Grund für die Aufenthalte in Leipzig, inzwischen ist es längst die Stadt.“ Zu den Maximen des verheirateten Vaters eines dreijährigen Sohnes gehören positives Denken und Offenheit. „Es gibt nichts Besseres, als miteinander statt übereinander zu reden, als das gegenseitige Interesse am Leben des Anderen“, stellt er fest. „Nur so verschwinden die Mauern aus den Köpfen.“ Ein Prinzip, das er auch auf die Migrationsdebatte übertragen wissen möchte. Ohler, sozialisiert im von vielen Kulturen und Nationalitäten geprägten Ruhrpott, sieht das Wachsen von Rassismus und Vorbehalten gegenüber Ausländern mit großer Sorge. Auch da hilft, salopp formuliert, das Ohlersche Apfelkuchen-Prinzip: Einfach mal ansprechen, denn in der Begegnung zerbröseln Pauschalurteile schnell. Auch Blicke über den eigenen sozialen Tellerrand waren dem Banker immer wichtig. Seit Jahren engagiert er sich ehrenamtlich für den Verein „Kinderarche Sachsen“, speziell für das Kinderheim in Markkleeberg. Mehrfach lud er zum karitativen Waffelbacken in jene Filiale der Deutschen Bank ein, deren Anblick ihn Anfang der 1990er in seinem Umzugsentschluss bestärkt hat. Hier arbeitete er zwischen 1992 und 2020, mit kurzen Unterbrechungen in den Filialen Mockau und Gohlis. Inzwischen berät er die Kundschaft in einem Center in Schkeuditz. Sein Enthusiasmus für Leipzig ist ungebrochen. Und wenn Dirk Ohler heutzutage den Namen seines Wohnortes nennt, erntet er andere Kommentare als früher. „Leipzig? Wow, eine tolle Stadt!“ Von Ost nach West: Marion Wittwer: Vor gut einem Jahr stand das Foto in der LVZ. Als es galt, an 30 Jahre Friedliche Revolution, an den 9. Oktober 1989 in Leipzig zu erinnern. Das stimmungsvolle Schwarz-Weiß-Bild, aufgenommen von einer Fotografin der Nachrichtenagentur ADN, zeigt eine junge Mutter mit ihren beiden Töchtern nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche. Marion Wittwer ist in Erwartung der anschließenden Montagsdemo, die den Weg zur Freiheit ebnen sollte. Sie hält eine Kerze in der Hand, ihr Gesicht verrät staunende Freude über ein Ereignis ungeahnten Ausmaßes. „Eigentlich ist es uns damals in der DDR nicht schlecht gegangen. Mein Mann hatte Arbeit, ich hatte Arbeit, den beiden Mädchen fehlte es an nichts. Doch dieses Eingesperrt-Sein, das hat mich ab dem 4. September 1989 auf die Straße getrieben“, erzählt die Frau, die in der Ernst-Thälmann-Straße aufwuchs und heute 69 Jahre alt ist. Ob das alte Foto tatsächlich vom 9. Oktober stammt wie medial kolportiert, daran zweifelt Marion Wittwer ein wenig. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich an dem besagten Montag die Kinder tatsächlich dabei hatte. Es war doch bekannt, dass es heiß hergehen könnte, dass die Polizei in den Seitenstraßen stand.“ Bekannt war der mutigen Demonstrantin auch, dass im Goldenen Westen nicht alles glänzte, was Glanz versprach. Doch bald nach Öffnung der innerdeutschen Grenze heuerte ihr damaliger Ehemann, ein gelernter Berufskraftfahrer, bei einer Baufirma in Ibbenbüren an. In dem nordrhein-westfälischen Städtchen hatte sich im Zuge der Weihnachtsaktion eines Radiosenders eine Patenfamilie aufgetan, die den Wittwers zur Brücke in die Bundesrepublik wurde. Im März 1990 zog Marion mit den Töchtern ihrem Gatten hinterher. Aus der Mitarbeiterin beim Leipziger Verlag für die Frau wurde zunächst eine Hotelbedienstete, später eine Beschäftigte beim Lebensmittelproduzenten Coppenrath & Wiese. „25 Jahre in drei Schichten, das war nicht immer leicht.“ Mit 63 durfte sie in Rente, ist inzwischen „im Großen und Ganzen“ zufrieden mit ihrem Leben. „Ich habe eine schicke Wohnung, gleich am Aasee. Es ist schön hier. Eigentlich alles okay.“ Und doch ist Marion Wittwer mit den Gedanken oft in Sachsen. Dort hat sie Freundinnen, nach Leipzig zieht es sie mindestens zweimal im Jahr. „Wegen der Herzlichkeit der Menschen. Die fehlt mir hier manchmal.“ Bis heute interessieren sich viele Westdeutsche nur wenig für das, was der Osten mal war und wie es dem Osten heute geht.“ Das wurmt Marion Wittwer. Fast so sehr wie der Umstand, dass im 30. Jahr der Deutschen Einheit soziale Unterschiede bestehen. „Es ist eine Katastrophe, dass viele Ostdeutsche bei gleicher Tätigkeit immer noch weniger verdienen als die Westdeutschen. Dabei ist das Leben in Leipzig genauso teuer wie das in Ibbenbüren.“ Auf das nächste Wiedersehen mit ihrer Heimatstadt freut sie sich schon sehr. Bald soll es wieder an die Pleiße gehen – zum Weihnachtsmarkt vors Alte Rathaus. Dort will Marion Wittwer einmal mehr ihre Freundinnen treffen. „Das Hotel ist gebucht. Jetzt muss nur noch Corona mitspielen.“ Von Mark Daniel und Dominic Welters