Buch Rad Reise Solidarität Leipzig Hildenbrandt Mathias

Über zwei Jahre lang waren die Lehramtsstudentin Claudia Hildenbrandt (29) und Neurologe Daniel Mathias (35) auf dem Fahrrad unterwegs. In ihrem Buch „Jesus liebt Radfahrer – Navid auch“ erzählen die Leipziger in nicht chronologischen Geschichten von Gastfreundschaft und Solidarität. Wir befragten die beiden zu den Erlebnissen und Erkenntnissen. Was hat Sie auf die Idee gebracht, sich so lange aus dem Alltag auszuklinken? Claudia: Die Neugier treibt mich immer wieder in die Welt. Auf dem Fahrrad kann man jederzeit anhalten, ist völlig ungebunden, man wird oft angesprochen und eingeladen. Ich habe tausendfach mehr gelernt und gestaunt als in den vergangenen Jahren meines Studiums. Daniel: Die Aussicht, zwei Jahre lang so oft fotografieren zu können, bis der Auslöser raucht, war einfach sehr verlockend. Die verschiedenen Menschen und ihre Gesichter, unberührte Landschaften – dazu die Chance, dort zelten zu können. Waren Sie mal an einem toten Punkt, haben Sie über einen vorzeitigen Abbruch nachgedacht? Claudia: Als mein Opa mehrere Wochen im Krankenhaus lag, haben wir über eine Heimkehr nachgedacht. Über solche Situationen haben wir uns vorher Gedanken gemacht und Verabredungen getroffen, um emotional aufgeladene Diskussionen zu vermeiden. Ansonsten: nie. Wir haben uns auf eine gewisse Reisedauer eingestellt und darauf vorbereitet, so dass ein Abbruch nie zur Debatte stand. Was war das schönste Erlebnis? Daniel: Der Grand Canyon! Die spektakulären Nationalparks in Südamerika! Aber meist waren es Erfahrungen mit Menschen und ihre Hilfsbereitschaft, eigentlich Profanes. In den USA wurden wir an manchen Tagen so oft beschenkt oder in Familien eingeladen, dass ich manchmal sprachlos auf dem Bordstein saß und mich fragte: „Ist das jetzt wirklich ernst gemeint?“ Und das schlimmste? Claudia: Das schlimmste und zugleich eines der schönsten: Als wir mit vollen Provianttaschen und Wassersäcken in den Anden unterwegs waren, in der trockensten Wüste der Welt, der Atacama. Auf 5000 Metern Höhe hatten wir furchtbaren Gegenwind und waren völlig verzweifelt, weil wir weit entfernt von einer Ortschaft nicht vorankamen – mit begrenzten Wasser- und Nahrungsvorräten. Plötzlich tauchte ein Geländewagen mit einem Schweizer Touristen auf. Der war total begeistert von unserer Tour, wollte Fotos mit uns schießen – und hat uns zum Abschied 100 Dollar geschenkt. Er meinte, wenn wir zurück in der Zivilisation seien, sollten wir uns ein feines Essen gönnen. Das hat unglaublich motiviert und uns vom Aufgeben abgehalten. Ihre Veröffentlichung unterscheidet sich von denen anderer Abenteurer... Claudia: Ja, wir zählen darin nicht unsere Schweißtropfen und Magen-Darm-Infektionen, denn nicht wir stehen im Fokus, sondern die Frauen und Männer entlang der Strecke. In kurzen Geschichten stellen wir die spannendsten Begegnungen vor. Darunter Professor Karim, der in seinem Land Pakistan verzweifelt, aber trotzdem bleibt. Pfarrer Harry an der Route 66, ein Waffennarr, vor dessen Altar wir die Schlafsäcke ausrollen durften. Und Schäfer Carlos aus Argentinien, der uns Zuflucht schenkt. In manchen Geschichten vergleichen wir auch Erlebnisse, zum Beispiel um zu zeigen, wie erstaunlich ähnlich sich die Iraner und US-Amerikaner sind, obwohl sie offiziell als Erzfeinde gelten. In Deutschland und der Schweiz wurde Ihnen Gratis-Leitungswasser verwehrt, in Bolivien oder Usbekistan bekamen Sie es von Armen selbstverständlich. Je mehr Wohlstand, desto größer der Egoismus? Claudia: Nein, das stimmt so aus unserer Sicht nicht. Wir wurden genauso von reichen US-Amerikanern und Deutschen beschenkt. Wie viel ein Mensch besitzt, sagt unserer Erfahrung nach nichts darüber aus, wie großzügig oder empathisch der- oder diejenige ist. Überall gibt es Hilfsbereite und Geizkragen, unabhängig von der Schichtzugehörigkeit, Religion, Hautfarbe, Nationalität oder Bildungsgrad. Ihr Buch handelt von Solidarität, die Sie weltweit erfahren haben. In Corona-Zeiten wurde Deutschland zum Volk der Klopapier-Hamsterer. Sehen Sie das mit Humor oder Scham? Daniel: Gelassen, wenn das unsere einzige Sorge ist. Für unsere Generation, die – als erste in Ostdeutschland überhaupt – in Frieden und Freiheit aufgewachsen ist, wird erstmals ein Gefühl äußerer Bedrohung spürbar. Wir stehen noch immer mit Kirgisen, Argentiniern, aber auch US-Amerikanern in Kontakt und würden nicht mit ihnen tauschen wollen. Es bestätigt sich in diesen Zeiten, was wir unterwegs gelernt haben: Deutschland ist ein Paradies auf Erden. Bisher haben wir über 40 Länder bereist, und kaum ein anderes bietet einen derartigen Lebens- und Versorgungsstandard. Wird die Solidarität in Deutschland nach Corona eine andere sein? Claudia: Wir können nur hoffen, dass es eher bergauf als bergab geht. Ich denke, Medienschaffende haben die zentrale Aufgabe, vor allem über Hilfsaktionen und Mitmenschlichkeit zu berichten. Das inspiriert mehr als Negativschlagzeilen und motiviert zum Mitmachen. Daniel: Das versuchen wir auch mit dem Buch. Ich bin fest davon überzeugt: Wer es liest, ist erstaunt über die Solidarität weltweit. Das macht Mut und Hoffnung gerade in diesen turbulenten Zeiten. Claudia, Sie sind mit einem eigenen Projekt an Schulen in ganz Sachsen unterwegs und berichten von der Tour. Was waren die Gründe hierfür? Claudia: Ich studiere Lehramt und habe direkt nach der Reise ein Praktikum absolviert. Sowohl in Englisch als auch in Gemeinschaftskunde konnte ich die Geschichten aus der Radreise einbauen. Die Schüler waren noch nie so aufmerksam. Das ist eine tolle Chance, auf authentische Weise mit den Jugendlichen über unterschiedliche Weltbilder zu sprechen. „Jesus liebt Radfahrer – Navid auch“ (Know-How-Verlag), 180 Seiten 15 Euro. Von Mark Daniel

Buch „Jesus liebt Radfahrer“ - Zuflucht bei Fremden: Radreisende Leipziger berichten von Solidarität weltweit