Corona ist auf Leipzigs Arbeitsmarkt angekommen

Die Corona-Krise rüttelt Leipzigs Wirtschaft durch. 41 Prozent der Betriebe sind von Kurzarbeit betroffen, in ganz Sachsen sind es 42 Prozent – so viele wie in keinem anderen Bundesland. Die LVZ sprach mit Leipzig Arbeitsagenturchef Steffen Leonhardi über die Auswirkungen. Frage: Leipzigs Arbeitslosenquote ist von 6,3 im März auf 7,3 Prozent im April angestiegen. Insgesamt waren 3549 Menschen mehr arbeitslos als ein Jahr zuvor. Ein Weltuntergang sieht eigentlich anders aus – oder? Steffen Leonhardi: Die Zahlen zeigen, dass die Corona-Pandemie mit den Einschränkungen für die Wirtschaft auf unserem Arbeitsmarkt angekommen ist. Nur die Kurzarbeit hat einen deutlich größeren Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert. Der sprunghafte Anstieg der Anmeldungen von Kurzarbeit durch die Leipziger Betriebe ist für mich das Signal, dass die Unternehmen ihre Beschäftigten unbedingt halten wollen. 82 000 Beschäftigte in Betrieben mit Kurzarbeit: Wie viele Leipziger sind in Kurzarbeit? Wir haben 6322 Kurzarbeitsanzeigen von Leipziger Unternehmen, in denen insgesamt über 82 000 Beschäftigte von Kurzarbeit betroffen sind. Vor einem Jahr hatten wir nur 13 Anzeigen von Firmen mit 785 betroffenen Beschäftigten. Das zeigt, dass wir im März und im April 2020 einen erheblichen Anstieg erlebt haben. Es heißt, deutschlandweit würden betroffene Unternehmen tatsächlich nur etwa die Hälfte ihrer Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken. Danach hätten wir in Leipzig aktuell etwa 40 000 Kurzarbeiter. Wie viele Beschäftigte in welchem Umfang schließlich kurzarbeiten, werden wir erst wissen, wenn die Betriebe bei uns abgerechnet haben. Die Unternehmen haben dafür grundsätzlich drei Monate Zeit. Entscheidend ist, wie viele Leipziger aus der Kurzarbeit in ihre Jobs zurückkehren. Nicht wenige Experten fürchten, dass viele Kurzarbeiter direkt in die Arbeitslosigkeit wechseln könnten. Die Rede ist davon, dass in Deutschland jeder fünfte Arbeitsplatz wegfällt. Wie sehen Sie das? Nach aktueller Einschätzung steigt die Arbeitslosigkeit auch in Leipzig kurzfristig weiter. Seriös sagen kann man aber nur, dass wir im Mai eine höhere Arbeitslosigkeit haben werden. Wie es sich weiterentwickelt hängt auch davon ab, wie lange und in welchem Umfang die Einschränkungen für die Wirtschaft andauern. Da möchte ich aber nicht zu weit in die Zukunft spekulieren. Pandemie-Folgen noch im nächsten Jahr spürbar: Das Kurzarbeitergeld wird ein Jahr lang gezahlt. Der Anstieg der Arbeitslosenzahlen könnte sich also auch noch im nächsten Jahr fortsetzen – oder? Wir könnten auch noch im nächsten Jahr coronabedingte Folgen auf dem Leipziger Arbeitsmarkt erleben. Aber denkbar ist auch, dass der Gesetzgeber reagiert und dann zum Beispiel das Kurzarbeitergeld verlängert. Bislang erfolgte das sehr flexibel und schnell. Es wird erwartet, dass durch die Corona-Krise vor allem die Jobs von Hilfskräften und Angelernten verloren gehen. Sind solche Arbeitnehmer in Leipzig besonders bedroht? Das kann man so nicht sagen, das ist branchenabhängig: Im Online-Handel gibt es zum Beispiel keine Freisetzung wie auch in den Kurier- und Zustelldiensten, sondern eher einen Bedarf. Arbeitslosigkeit droht eher in den von den coronabedingten Auflagen betroffenen Branchen wie Tourismus, Gastronomie, Hotellerie sowie Einzelhandel. Entwicklung der Arbeitslosigkeit nicht kalkulierbar: Wie hoch könnte die Arbeitslosigkeit am Jahresende in Leipzig sein? Noch mal, bei den aktuellen Einschränkungen und der Entwicklungsdynamik möchte ich nicht spekulieren. Die Zahl der freien Stellen ist in Leipzig drastisch gesunken. Viele Arbeitgeber wollen offenbar auf absehbare Zeit keine neuen Mitarbeiter einstellen. Macht das nicht Angst – zum Beispiel um die vielen jungen Menschen, die jetzt aus Lehre und Studium auf den Arbeitsmarkt drängen? Es ist aktuell eine Herausforderung, bei deutlich weniger Stellenangeboten in Arbeit zu vermitteln. Ich bin allerdings überzeugt, dass beim Hochfahren der Wirtschaft wieder deutlich mehr Nachfrage nach Arbeitskräften bei uns angezeigt wird. Wir nutzen dabei unser gesamtes Instrumentarium zur Unterstützung, um Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Ausbildungsangebote um 17 Prozent zurückgegangen: Wird in Leipzig die Jugendarbeitslosigkeit explodieren? Bis April hatten die Leipziger Betriebe für den diesjährigen Ausbildungsbeginn 2071 Ausbildungsstellen bereitgestellt. Das waren 421 weniger als bis April 2019, was einem Rückgang um 16,9 Prozent entspricht. Aber die Leipziger Unternehmen haben immer noch über 2000 Ausbildungsstellen gemeldet. Dennoch wollen wir mit den Akteuren vor Ort in einer Allianz für Ausbildung allen jungen Menschen eine berufliche Perspektive geben, um einen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit zu verhindern. Wenn Gastronomie wieder läuft, wird auch wieder eingestellt: In Leipzig sind auch 5125 arbeitslose Ausländer gemeldet. Eine Arbeitslosenquote geben Sie für diese Gruppe ja nicht an. Wird es jetzt schwerer, Migranten und Asylbewerber im Arbeitsmarkt unterzubringen? Dieser Eindruck ist nicht richtig. Leipzigs Unternehmen setzen in der Corona-Krise nicht verstärkt ausländische Arbeitskräfte frei. Aber viele Menschen mit Migrationshintergrund sind zum Beispiel im Gastgewerbe tätig, das aktuell von der Krise überproportional betroffen ist. Wenn die Gastronomie wieder läuft, wird auch Kurzarbeit verringert und Menschen werden wieder eingestellt. Arbeitsagentur zählt von März zu April 26 Prozent mehr Erwerbslose: Auch die Zahl der Hartz-IV-Empfänger wächst. Wie stark ist der Anstieg? Die Zahl der arbeitslosen Menschen in der Grundsicherung ist in Leipzig von 12 759 im März auf 14 039 im April gewachsen. Das entspricht einen Anstieg um zehn Prozent. Hinzu kommen die bei der Arbeitsagentur gemeldeten Arbeitslosen. Im März waren das 7008 Menschen, im April 8853. Das entspricht einem deutlichen Anstieg um 26,3 Prozent. Viele Leipziger haben vor Corona nur Mini-Löhne bekommen und benötigen jetzt neben ihrem Kurzarbeitergeld eine Aufstockung oder eine Ergänzung – also eine zusätzliche Hilfe vom Jobcenter. Wie ist die Entwicklung dort? Bei den sogenannten Bedarfsgemeinschaften – also den Familien, die Hilfen aus der Grundsicherung erhalten – gibt es einen Anstieg um 433. Insgesamt gibt es derzeit in Leipzig 31 831 Bedarfsgemeinschaften. Verglichen mit dem April 2019 ist diese Zahl aber um 2408 Familien geringer. Arbeitsbehörde setzt mehr Mitarbeiter bei Antragsbearbeitung ein: Was wird Ihre Behörde tun, um die Verwerfungen in Leipzigs Arbeitsmarkt zu verringern? Zunächst haben wir uns umstrukturiert und jetzt deutlich mehr Mitarbeiter für die Bearbeitung von Anträgen auf Kurzarbeitergeld eingesetzt. Das oberste Ziel ist die Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Ferner nutzen wir nach wie vor alle verfügbaren Förderinstrumente zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Beispielhaft gibt es Lohnkostenzuschüsse, wenn Menschen aus der Arbeitslosigkeit eingestellt werden. Und Qualifizierungen, um Betroffene fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Wo kommt das viele Geld her, das in den vergangenen Wochen in die Wirtschaft gepumpt wurde? Das Kurzarbeitergeld – das für den Arbeitsausfall und damit den Entgeltausfall für die im Betrieb Beschäftigten gewährt wird – stammt aus den Beiträgen und Rückstellungen aus Einzahlungen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer in die Arbeitslosenversicherung. Was geschieht, wenn dieses Geld alle ist? Es steht genug Geld zur Verfügung. Wenn weniger Menschen Jobs haben, wird ja auch weniger in die Arbeitslosenversicherung, in die Rentenkassen und an die Krankenkassen überwiesen. Das ist so. Vollbeschäftigung bis zum Jahr 2030 ist trotz Corona erreichbar: Sie haben noch im Dezember 2019 in der LVZ die Hoffnung geäußert, dass im Jahr 2030 in Leipzig praktisch Vollbeschäftigung herrscht. Diese Hoffnung ist doch jetzt geplatzt – oder? Ich bin auch jetzt noch davon überzeugt, dass bei der Erholung der Wirtschaft die Nachfrage nach Arbeitskräften steigt und dadurch weiter neue Arbeitsplätze entstehen. Hinzu kommt ein zusätzlicher Bedarf durch die demografische Entwicklung mit einem weiteren Rückgang an Arbeitskräften. Deshalb bleibe ich dabei – auch wenn es bis 2030 noch viele Unwägbarkeiten gibt –, dass bis dahin Vollbeschäftigung erreichbar ist. Für mich sind deshalb die gemeinsamen Anstrengungen für die Ausbildung von Nachwuchskräften zu den Fachkräften von morgen eine Herzensangelegenheit. Lesen Sie auch: Noch kein Anstieg bei Insolvenzen Corona-Liveticker Von Andreas Tappert

Beschäftigungslage - „Corona ist auf Leipzigs Arbeitsmarkt angekommen“