Am Mittwochmorgen sind die Spuren der vergangenen Nacht noch immer deutlich in der Hildegardstraße in Leipzig-Volkmarsdorf zu sehen. Es liegen die Scherben zerbrochener Bier- und Limonadenflaschen auf der Straße. Alte Möbel, die in der Nacht zuvor die Straße versperren sollten, stehen neben Mülltonnen, bei einem Auto ist eine Fensterscheibe auf der Beifahrerseite eingeschlagen. Auf einer weißen Hauswand prangt ein Graffiti-Schriftzug: „Remember, remember the 10th of July“ („Erinnert euch, erinnert euch an den 10. Juli“) sowie eine gegen Polizisten gerichtete Beleidigung.
Etwa 500 Menschen hatten sich am späten Dienstagabend in der Straße, welche die Eisenbahnstraße kreuzt, versammelt, um die Abschiebung eines kurdischen Syrers nach Spanien zu verhindern. Die Leipziger Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort. In den frühen Morgenstunden eskalierte die Situation, es gab zahlreiche Verletzte unter den Demo-Teilnehmern und Polizeibeamten.
Anwohner erlebten schlaflose Nacht
Viele Anwohner erlebten die Ereignisse aus geringer Distanz. Der 29-jährige Raik Hoffmann streckt am Mittwochvormittag müde seinen Kopf aus dem Fenster einer Erdgeschosswohnung in der Hildegardstraße. „Das ging hier bis drei Uhr morgens, es gab richtige Tumulte,“ erzählt er. Die Polizei sei mit Pfefferspray gegen die Demonstranten vorgegangen.
Auf der Flucht vor dem Reizstoff hätten einige Menschen die Tür des Wohnhauses von Hoffmann gewaltsam geöffnet. „Die sind in den Hausflur gerannt und auch in die oberen Etagen,“ erzählt der Anwohner. „Einige Nachbarn haben ihnen Wasser gegeben, damit sie sich die Augen ausspülen können.“
„Die Situation war aufgeladen,“ berichtet ein Demo-Teilnehmer
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlendern drei junge Männer durch die sonnige Hildegardstraße. Einer von ihnen, der 28-jährige Toni hat sich an der Demonstration gegen die Abschiebung des jungen Syrers beteiligt. „Die Situation war unübersichtlich und aufgeladen,“ berichtet er. Der Geflüchtete habe in einem Polizeiauto gesessen. Die Demonstranten verhinderten mit Sitzblockaden und Möbeln auf der Straße dessen Abfahrt.
Gegen ein Uhr nachts sei der Abzuschiebende dann mit von Polizeibeamten umgeben durch die Menge geführt und vom Ort entfernt worden. „Das haben wir gar nicht richtig mitbekommen“, erzählt der 28-Jährige, der unweit der Hildegardstraße wohnt. Danach sei die Situation eskaliert, die Beamten hätten die Demo-Teilnehmer aus seiner Sicht brutal zurückgedrängt. „Ich habe gesehen, wie ein Beamter auf jemanden, der bereits am Boden gelegen hat, eintrat,“ so Toni.
„Ich verstehe das nicht, wozu das Ganze?“, fragt eine Anwohnerin
Ein paar Meter hinter Toni und seinen Freunden durchquert eine Frau mit Einkaufstasche die Hildegardstraße. Die 65-jährige Anwohnerin ist verärgert über die nächtlichen Ereignisse, denn es ist ihr Auto, dessen Scheibe eingeschlagen wurde. „Ich verstehe das nicht, wozu das Ganze?“, fragt sie. „Die haben hier bis spät in die Nacht rumgebrüllt wie die Verrückten.“
Der Polizeiwagen mit dem syrischen Mann habe direkt unterhalb ihres Wohnhauses gestanden, vom Fenster aus habe sie die Geschehnisse beobachtet. Eine Nachbarin rief ihr von unten zu, dass eine Scheibe am Fahrzeug der 65-Jährigen eingeschlagen wurde. Auch der Außenspiegel sei beschädigt, es gebe Beulen und Kratzer im Lack. „Ich gehe heute zur Polizei wegen des Schadens, gestern Nacht konnte sich niemand mehr darum kümmern,“ erzählt sie.
Von Pia Siemer