„Freiraum“ gegen Zwang und Gewalt in der Psychiatrie des Leipziger Park-Klinikums

Nicht alles ist Friede-Freude-Eierkuchen in diesem Zimmer. Schon gar nicht für pixelige Maulwürfe. Ihnen wird in einem Videospiel auf einer Medienwand regelmäßig eins mit der Schaufel übergebraten. „Das Lieblingsspiel der Oberärztin“, sagt Susanne Aresin mit einem Augenzwinkern: Die bereichsleitende Oberärztin Allgemeinpsychiatrie – das ist sie selbst. „Freiraum“ nennt sich ein Pilotprojekt, das am Helios Park-Klinikum die Atmosphäre für alle anderen als die digitalen Tierchen merklich entspannt hat. „Es ist wie ein Traum, der wahr geworden ist“, jubelt Aresin. Auf Wunsch wird die Zimmerdecke zum Sternenhimmel: Seit einem Jahr im Testbetrieb, hat die Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie das bundesweit einzigartige Angebot jetzt offiziell eröffnet. Große Fenster, helle Wände, weiche Sitzwürfel, ein Bett. Auf eine Fototapete ist ein lichtdurchfluteter Wald gedruckt. An der Medienwand lässt sich per Touchscreen die Temperatur ändern und das Licht dimmen. Drei Sternenhimmel-Platten sind an die Zimmerdecke montiert. Entspannungsvideos stehen auf Abruf bereit, ebenso ein Schachduell und eine App zum Zeichnen. Ein Rückzugsort für Patienten, die mitten in einer psychischen Krise stecken, die lebensbedrohlich für sie selbst und auch gefährlich für andere sein kann. Oft ist die Polizei dabei, wenn ein Notarzt einen neuen Patienten bringt. Nach außen ist meist abgesperrt. 22 Betten stehen hier zur Verfügung, jeweils zwei pro Zimmer. Rund 50 000 Euro hat das Klinikum in den Umbau der 16 Quadratmeter investiert, wo zuvor ein sogenannter Krisen-Interventionsraum gewesen war: leer, gekachelt, zugesperrt – im Prinzip eine Arrestzelle zur Gefahrenabwehr. Niemand ging hier freiwillig rein. Doch Gewalt und Gegengewalt schaukeln sich meistens nur hoch. Auch die Mitarbeiter sind jetzt besser gelaunt: Dagegen ist der „Freiraum“ keine Zwangsmaßnahme, sondern ein Angebot an die Patienten. „Jetzt ist eine Klinke dran“, sagt Pflege-Leiterin Mechthild Pappe. Von innen wohlgemerkt: Der Patient entscheidet selbst, wann er das Zimmer verlässt. Über einen Notknopf kann er Hilfe holen. Von außen verhindert ein Türknauf, dass andere stören. „Der Patient weiß aber, dass ich alle zehn, zwanzig Minuten den Kopf reinstecke und frage, ob alles okay ist“, erklärt Stationsleiter Markus Rehak. Technisch würde die Medienwand auch eine durchgehende Überwachung ermöglichen. Doch die Funktion kam bislang nicht zum Einsatz. Der „Freiraum“ biete auf Wunsch auch die Gelegenheit für ein ruhiges Gespräch zwischen Patient und Mitarbeiter, sagt Rehak. Vor allem sei er aber ein Baustein einer grundsätzlichen Haltungsänderung. „Wir wollen so wenig Zwang wie möglich.“ Oberärztin Aresin fügt an: „Wir haben seither ein ganz anderes Klima auf der Station.“ Auch unter den Mitarbeitern habe sich die Stimmung enorm aufgehellt, hat Klinik-Chefärztin Katarina Stengler gemerkt: „Das Team muss kaum noch fixieren. Und wir können die Station viel häufiger offen halten als früher.“ Einen psychisch kranken Menschen zu fesseln, hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 2018 als Freiheitsentziehung definiert und strenge Auflagen angeordnet – ein willkommener Anstoß, findet Julian Zimmer, Geschäftsführer des Park-Klinikums: „Es passt in die Philosophie unserer Klinik, alles dafür zu tun, um Gewalt zu vermeiden.“ „Das funktioniert nicht mit allen Patienten“, schränkt Oberärztin Aresin ein. „Aber es hat einen Effekt auf alle Patienten zu sehen, dass es auch so geht.“ Die Strategie erfordert freilich entweder ein hohes Maß an Selbstreflexion der Betroffenen: zu merken, dass die Wut in Aggression zu kippen droht. Oder das Personal muss äußerst aufmerksam sein und einen Patienten rechtzeitig fragen, ob er sich nicht lieber eine Auszeit nehmen will. Die Mitarbeiter werden daher regelmäßig in Deeskalation geschult. Das Projekt wird intern kontinuierlich evaluiert. Am Klinikum sind sie aber schon jetzt so zufrieden damit, dass auf einer anderen Station ein zweites Deeskalationszimmer angedacht ist. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat ebenfalls Interesse angemeldet. Zuerst wütet er, dann fängt er an zu weinen: Aresin erzählt von einem Patienten, Ende 40 und in einer schweren depressiven Episode, aggressiv gegen sich selbst und andere, der kürzlich eine Schwester bat, ihm den „Freiraum“ aufzuschließen. Drinnen habe er erstmal gegen die Sitzwürfel getreten, im Videospiel Tierchen malträtiert und sich die Wut von der Seele gebrüllt. Dann fing er an zu weinen. Ganz ruhig verließ er das Zimmer, legte sich in sein Bett und konnte seit langem mal wieder richtig schlafen. Sogar die Pixel-Maulwürfe hatten danach ihre Ruhe. Von Mathias Wöbking