Mehr Süchtige durch Corona in Leipzig?

Vor Corona hockte der junge Mann gern in Bars und Kneipen und trank zusammen mit Freunden ein Glas Wein oder zwei. Dann kam die Pandemie mit ihren diversen Lockdowns. Seither greift der Single täglich auf dem heimischen Sofa zur Riesling-Flasche. Der Mittdreißiger ist immerhin so reflektiert, dass er sich Sorgen um sich selber macht. So wählt er die Nummer der Suchtberatungs- und -behandlungsstelle unter dem Dach der Diakonie Leipzig. Unter normalen Umständen wäre die Schamgrenze, sich an das „Blaue Kreuz“ – so der traditionelle Name der Beratungsstelle – zu wenden, „wahrscheinlich zu hoch gewesen“, glaubt Anja Falke. Sie ist die Leiterin der Einrichtung in der Georg-Schumann-Straße 172, zu der es in Corona-Zeiten keinen freien Zugang gibt. Die Erstkontaktaufnahme muss telefonisch (0341 926570) oder per E-Mail (suchtberatung@diakonie-leipzig.de) erfolgen. Rückfall nach dreieinhalb Jahren Trockenzeit: Erst platzt der Sommerurlaub wegen der Covid-Krise, dann kommt der Sohn nicht zu Besuch, weil er in Quarantäne muss – und die Kollegenschar ist auch nicht greifbar, denn das Berufsleben findet nur noch im Homeoffice statt: Nach dreieinhalb Jahren Trockenzeit wird eine Frau wieder rückfällig. Sie schiebt dies zwangsläufig auf den Teufel namens Corona. Zum Freund hochprozentiger Getränke wird auch ein Unternehmer, den die Pandemie in die Insolvenz getrieben hat. Existenzgrundlage weg, Bewunderer futsch, Einsamkeit da. Das Kompensationsmittel der Wahl ist der Alkohol. Gefahr des verdeckten Konsums: Drei Fälle, mit denen Anja Falke und ihre zwei Dutzend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in jüngster Zeit zu tun hatten. Und doch sagt die 45-Jährige: „Die Pandemie verursacht keine Sucht, sie kann aber bereits vorhandene Veranlagungen zum Vorschein bringen oder diese noch verstärken.“ Valide Zahlen, nach denen die Maßnahmen zum Schutz vor dem Sars-CoV-2-Virus die Zahl der Alkoholabhängigen in die Höhe schnellen lassen, gebe es bislang jedenfalls nicht, betont die Sozialpädagogin. Allerdings sehen sie und ihre Kolleginnen und Kollegen die Gefahr des verdeckten Konsums von Bier, Schnaps & Co. durch das Homeoffice. „Es fehlt die gesellschaftliche Kontrolle, das Trinken im öffentlichen Raum geschieht nun im stillen Kämmerlein“, erläutert Anja Falke. Mangelnde Verpflichtungen und fehlende Tagesstruktur, vermehrte Einsamkeit und verstärkte Zukunftsängste, nagende Existenzsorgen und zunehmende Überlastung – alles Gründe, sich einen Rausch anzutrinken. Medien-Sucht – junge Leute in Gefahr: War der Alkohol einst das Suchtmittel Nummer eins, ist mit Crystal Meth seit einigen Jahren eine heimtückische Droge hinzugekommen; überwiegend konsumiert von Jugendlichen. „Quantitativ halten sich beide Mittel inzwischen die Waage“, sagt die Beratungsstellenleiterin. Bis vor zehn Jahren sei Leipzig eine Heroin-Hochburg gewesen, nun bedrohe die jungen Leute neben den synthetischen Drogen noch eine ganz andere Gefahr: die Medien-Sucht. Diese Abhängigkeit dürfte im Lockdown eher zu- als abnehmen, ist Anja Falke überzeugt. Durch das Homeschooling am PC oder Laptop würden Kinder und Jugendliche „schnell mal zwischendurch“ ein Computerspiel spielen oder sich in die sozialen Netzwerke begeben – und so zu Digitalmedien-Junkies werden. „Vor der Pandemie haben sich unsere Kolleginnen und Kollegen von der Jugenddrogenberatungsstelle K(L)ICK am Nikolaikirchhof intensiv um die Prävention kümmern können; vor allem an den Schulen. Dieses Segment unserer Arbeit fällt momentan flach.“ Respekt für die kreativen Kollegen: Überhaupt der Alltag. Dem „Blauen Kreuz“ geht es mitunter selbst nicht gut. Die, die es tragen, werden halt auch mal krank, gehören Risikogruppen an oder sind Eltern von kleinen Kindern, die überwiegend daheim betreut werden müssen. „Hinzu kommt der erhöhte psychische Stress, ausgelöst durch die sich ständig verändernden Corona-Schutz-Maßnahmen, die unsere Abläufe beeinträchtigen“, sagt Anja Falke, gleichfalls Mutter von zwei minderjährigen Kindern. Ihren Mitstreitern zollt sie deshalb allergrößten Respekt. „Sie sind alle sehr kreativ, wenn es darum geht, Alternativen zu den untersagten Gruppenversammlungen zu finden.“ Den Kontakt zu den Klienten in Behandlung nicht abreißen zu lassen, dies sei das Gebot der Stunde. „Wir werden gebraucht, mehr denn je“, ist die leitende Diakonie-Mitarbeiterin überzeugt. „Aber wird das von der Gesellschaft auch wertgeschätzt?“ Das fragt sie sich schon länger. Von Dominic Welters