Pilotaktion in Leipzig: „Ich will mich nicht von Corona erwischen lassen“

Riesenandrang am Sonnabend in der Langen Lene: In Deutschlands längstem Wohnblock an der Lene-Voigt-Straße 2-8 können sich seit 8.30 Uhr die rund 300 Über-80-Jährige impfen lassen, die dort wohnen. Die Aktion gilt als Premiere, denn bislang wurde in Leipzig nur im zentralen Impfzentrum auf der Neuen Messe geimpft sowie in den Alten- und Pflegeheimen. In der Langen Lene hatte der Leipziger Verein Alter, Leben und Gesundheit mit Unterstützung der Stadtverwaltung und der linken Ratsfraktion die erste Vor-Ort-Impfung in einem Wohngebäude der Stadt möglich gemacht ( die LVZ berichtete exklusiv). Verein hat Impfzeiten vergeben: Seit dem frühen Morgen herrscht ungewöhnliches Gedränge in der „Senioren-Begegnungsstätte“ der Langen Lene. Denn dort haben Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes bis zu vier Impfstationen eingerichtet: Im Erdgeschoss sitzen Senioren, die sich impfen lassen wollen, auf der Galerie die Ärzte des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), unterstützt von Vereinsmitgliedern. Letztere haben bereits in den Tagen zuvor alle Impfinteressenten erfasst und für die meisten Senioren auch gleich die Fragebögen ausgefüllt, die für die Ärzte wichtig sind. Außerdem wurden Impfzeiten vergeben, damit die Impfteams nicht überrannt werden. „Im Prinzip kommen jetzt die Senioren im Fünferpack an“, erzählt Vereinschefin Professorin Gothild Lieber, die auch Vorsitzende des Leipziger Seniorenbeirats ist. Sie ist zusammen mit 20 weiteren Vereinsmitgliedern seit dem frühen Morgen vor Ort. Gemeinsam werden Hausbewohner aus ihren Wohnungen abgeholt, denn viele können sich nur noch mit Gehbänken und Rollatoren fortbewegen. Die Ehrenamtler greifen auch den Helfern von DRK und Johannitern beim Organisieren unter die Arme und betreuen die Hausbewohner, nachdem diese ihre Impfungen erhalten haben. „Ich bin kein Impfgegner“: Schon auf die Galerie geschafft hat es Karlheinz Brecher. Der 88-Jährige, der in Leipzig jahrzehntelang als Tischler gearbeitet hat, sitzt dort in einem Sessel und wartet, dass er zu einem der beiden Impf-Ärzte gebracht wird, die ein paar Meter entfernt in Aktion sind. „Wenn ich mir vorstelle, dass wir zum Impfen bis zur Messe müssten“, sagt er und schüttelt mit dem Kopf. An seinem Knie lehnt ein schwarzer Gehstock. „Den habe ich sicherheitshalber mitgenommen“, erzählt der Senior. Angst vor der Aktion hat er nicht. „Mein Vater war ein Impfgegner, ich bin keiner“, meint er. „Ich will mich nicht von Corona erwischen lassen.“ Neben ihm warten Helga und Heinz Frieß. „Bei diesem Wetter hätten wir es nicht bis auf die Messe zum Impfen geschafft“, erzählt die 85-Jährige und fügt dann schnell hinzu: „Ich vielleicht noch, aber mein Mann auf keinen Fall.“ Ihr Mann Heinz ist 93 Jahre alt, sitzt neben ihr und ist an diesem Vormittag sichtlich froh, dass er den Weg von seiner Wohnung in die Begegnungsstätte geschafft hat. Ihr Termin war eigentlich um 11 Uhr, aber jetzt ist es schon 11.40 Uhr. „Das macht nichts“, sagt Helga Frieß. „Wir sind ja gleich dran.“ „Haben Sie Fieber oder Allergien?“: Jetzt hat es Karlheinz Brecher schon fast geschafft. Katharina Ruppel vom Verein kommt zu ihm und drückt ihm eine Klarsichtfolie in die Hand, in der sein ausgefüllter Fragebogen und sein Impfausweis zu sehen sind. „Gleich haben Sie es geschafft“, flüstert sie. Dann sitzt Brecher dem Impfarzt gegenüber, der aufmerksam den Fragebogen studiert. „Wir müssen wissen, ob Sie Fieber haben oder Allergien“, sagt er. Oder ob Medikamente und Blutverdünner genommen werden. Und wie haben die anderen bisher die Impfung vertragen? „Seit Beginn um 8.30 Uhr gab es keine Komplikationen“, sagt der Arzt. Jetzt ist es 12 Uhr. „Das funktioniert nur mit Ehrenamtlern“: Beobachtet wird die Aktion von Olaf Hagenauer, Vorstand des DRK Kreisverbandes Leipzig-Stadt. Er hat entdeckt, woran die leichte Verspätung im Ablauf liegt: Die Senioren müssen nach der Impfung noch 15 bis 30 Minuten im Erdgeschoss der Begegnungsstätte sitzen bleiben, weil ihr Zustand beobachtet wird. „In Alten- und Pflegeheimen sind sie auch auf ihren Zimmern unter Kontrolle, das ist hier anders“, sagt der DRK-Mann. Die Aktion sei nur möglich geworden, weil der Verein so rührig ist. „Das funktioniert nur mit den vielen Ehrenamtlern.“ Den Impfstoff für die Lange Lene hat das DRK aus Dresden bezogen. „Wir haben ihn in einer Kühlbox hierher transportiert.“ Die Dosen sind von Biontech. Vereinsvorsitzende Gothild Lieber ist mit dem Ablauf zufrieden. Seitdem die LVZ am Freitag über die bislang einmalige Aktion berichtete, standen im Verein die Telefone nicht mehr still, erzählt sie. „Es riefen Senioren aus der Nachbarschaft an, die unbedingt auch das Vor-Ort-Angebot nutzen wollten.“ Auch in anderen Wohnanlagen, die der Verein betreut, war das Interesse enorm. „Wir haben von dort die Über-80-Jährigen mit einem Shuttle hergefahren“, berichtet sie. Auch am Sonntag würden Vereinsmitglieder noch einmal vor Ort sein und kontrollieren, wie die Senioren die Impfung vertragen. Dieser Aufwand wird noch einmal betrieben werden müssen: Am 6. März ist in der Langen Lene die Zweitimpfung angesetzt. Von Andreas Tappert