Sozialgericht Leipzig: Kassen und Kliniken liegen seltener im Clinch

Seit Jahren überrollen immer neue Klagewellen das Sozialgericht Leipzig. Deshalb überrascht der Blick auf das Vorjahr: Da nahm die Anzahl der Streitfälle gegenüber 2019 deutlich ab. „Um circa 30 Prozent“, sagt Richter Carsten Kups. Auf 8287 Klage- und Eilverfahren im Jahr 2019 folgten – nach einer vorläufigen gerichtsinternen Statistik – dann 5857 im Jahr 2020. Das Gericht macht dafür hauptsächlich zwei Gründe aus: Einerseits haben sich Krankenkassen und Krankenhäuser wesentlich seltener über die Vergütung von stationären Aufenthalten gesetzlich versicherter Patienten gestritten. Die Neueingänge zum Krankenversicherungsrecht sanken um gleich 34 Prozent. Und auch in einem anderen Rechtsgebiet – dem Dauerstreitthema Hartz IV – gingen die Zahlen um circa 20 Prozent zurück. „Da war Corona noch weit weg“: Mit der Pandemie hat die Entwicklung zumindest beim ewigen Streit um den „teuren Patienten“ nichts zu tun. „Einen Zusammenhang mit Corona sehe ich bei den aktuellen Fallzahlen nicht. Denn die jetzt beim Sozialgericht eingehenden Klagen betreffen Behandlungsfälle aus 2017 – da war Corona noch weit weg“, erläutert Gerichtssprecher Kups. Vielmehr sei der Trend darauf zurückzuführen, dass sich Kliniken immer zum Jahresende entscheiden müssen, ob sie ältere noch offene Forderungen abschreiben oder einklagen. Es handelt sich dabei um Forderungen aus abgerechneten, aber durch die Kassen nicht bezahlte Behandlungen. „Denn ohne Klage tritt Verjährung ein, wie im Zivilrecht auch“, so Kups. Die „Lawine“ an Klagen, die dann Ende 2019 einsetzte und mit 2988 neuen Verfahren einen Rekord bescherte, hing mit einer Gesetzesänderung zusammen, die eine verbindliche Schlichtung vor einer Klageerhebung ab 2020 vorsah. Die Streitparteien befürchteten einen erschwerten beziehungsweise verzögerten Zugang zum Gericht. Daher wurden nicht nur das Sozialgericht Leipzig, das für die Stadt sowie die Landkreise Nordsachsen und Leipzig zuständig ist, sondern die Gerichte bundesweit mit dem Kassen-und-Kliniken-Zoff überrollt. „Sonderkonjunktur für Vergütungsklagen“: Sebastian Obermaier, Fachanwalt für Sozialrecht, meint, dass der Gesetzgeber damit 2019 ungewollt eine „Sonderkonjunktur“ für Vergütungsklagen der Krankenhäuser gegen -kassen verursacht habe. 2020 hätten sich die Eingänge neuer Klagen – es handelte sich um „nur“ 1037 – „wieder auf dem üblichen Niveau“ eingepegelt. Bei den Fällen geht es beispielsweise darum, ob eine Krankenhausbehandlung überhaupt notwendig war oder ob sie zu lange andauerte. „Streitig kann auch die abgerechnete Haupt- oder Nebendiagnose werden“, berichtet Richter Kups. Da stelle sich etwa die Frage: „Gab es während des Krankenhausaufenthalts eines Herzinfarktpatienten zusätzlich ein Nierenleiden, das bei der Infarktbehandlung berücksichtigt werden musste und so zusätzlichen Behandlungsaufwand verursachte?“ „Folge des politischen Willens“: Der deutliche Rückgang der Hartz-IV-Fälle von 2902 (2019) auf 2297 (2020), die das Gericht aufgrund der Existenzsicherung Betroffener vorrangig entscheidet, lässt sich hingegen auch „auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie“ zurückführen. „Die durch den Gesetzgeber zum Teil stark vereinfachten Regelungen für einen einfachen Zugang zur Grundsicherung in dieser Zeit scheinen mehr Zufriedenheit bei den Leistungsempfängern bewirkt zu haben“, glaubt Kups. Anwalt Obermaier teilt diese Auffassung: Der Klagerückgang sei einerseits „Folge des politischen Willens“, Bedürftigen in Corona-Zeiten zum Beispiel durch vereinfachte Vermögensprüfungen zu helfen und sie weniger etwa durch Sanktionen unter Druck zu setzen. Andererseits sei der Rückgang auch auf Resignation und zudem wohl auf den Umstand fehlender Rechtsberatung zurückzuführen, sagt Obermaier. „Zugang zu Beratungshilfe erschwert“: „Bedürftige Menschen suchten 2020 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte erheblich seltener auf, weil ihr Zugang zu Berechtigungsscheinen für Beratungshilfe erheblich erschwert war.“ Ein weiterer Grund könnte sein, dass es für Betroffene 2019 schwieriger war, persönlich beim Gericht Klage einzureichen. „Zumindest zeitweise gab es ab der Corona-Krise keinen Einlass beim Sozialgericht Leipzig, sondern nur einen Zettel an der Tür, demgemäß man sich fernmündlich einen Termin bei der Rechtsantragsstelle zur Klageerhebung geben lassen konnte“, so der Anwalt weiter. Sozialgerichte befassen sich außerdem mit Streitfällen um die Renten-, Arbeitslosen- oder Unfallversicherung, um Sozialhilfe oder Verfahren zur Feststellung einer Schwerbehinderung. Von Sabine Kreuz