Warum geht eine Leipziger Musikschulleiterin auf die „Querdenken“-Demo?

Einen Tag bevor Annett Richter auf ihre erste Demonstration seit 1989 geht, schaut sie auf ihr Handy und sagt: „Hessen.“ Hessen, das erfährt Richter gerade, hat soeben als vorletztes Bundesland seine Musikschulen wieder geöffnet. „Jetzt also nur noch Sachsen“, sagt die Musikschulleiterin. Wenn am Samstag in Leipzig 20.000 Menschen an der „Querdenken“-Demonstration teilnehmen, will auch Annett Richter mitlaufen. Auch Corona-Leugner, Reichsbürger und Neonazis werden sich an dem Aufzug beteiligen. Daneben: Richter und viele andere, die nicht rechts denken oder an Verschwörungen glauben und sich an die Maskenpflicht halten. Warum tut sie das? Vor 20 Jahren eigene Musikschule gegründet: Richter, 44 Jahre, ist eine Frau, die beim Lachen den Kopf und die blonden Haare zurückwirft. Vor 20 Jahren absolvierte sie ihren Abschluss am Salzburger Mozarteum. Und sie kehrte in ihre Heimat zurück, nach Bad Düben, wo sie eine Musikschule gründete: die „TonArt“. Heute hat ihre Schule einen Sitz am Bayrischen Bahnhof in Leipzig, wo 26 Musiklehrer mehr als 700 vor allem junge Menschen in Posaune, Klarinette, Geige und vielen anderen Instrumenten unterrichten. Seit Corona muss Richter sich mit einigem beschäftigen, das nicht unmittelbar mit Musik zu tun hat. Kürzlich organisierte sie Plexiglasscheiben, die nun beim Trompetenunterricht zwischen Schüler und Lehrer stehen. Zuletzt machte sie sich über Luftreiniger schlau, mit denen ihre Schulräume virenfrei werden sollten. Aber die Reiniger wurden nie bestellt: Sachsen sperrte am Montag all seine Musikschulen zu, auch die von Richter. Richter ist überzeugt, dass die Musikschulen hätten offen bleiben müssen. Der Grund liegt ihrer Sicht darin, dass die Schulen als Bildungseinrichtung gelten. Ihre Lehrkräfte verfügen zum Großteil über ein Musikstudium, der Unterricht ist hochwertig. Und beim Finanzamt ist ihre Schule als „berufsvorbereitend“ vermerkt. Daher dachte Richter, dass ihre Musikschule mit gemeint sein würde, als es hieß, dass Schulen und Kitas offen bleiben würden. Doch dann wurde ihr per sächsischer Schutzverordnung die Schließung verordnet. „Der Freistaat Sachsen wertet unsere Arbeit als bloßen Zeitvertreib“, sagt Richter, „wie einen Bastelkurs an der Grundschule.“ Erster Lockdown war noch ertragbar: Schon während der ersten Corona-Welle wurde Richters Musikschule geschlossen. Aber sie kam durch. Obwohl der Unterricht auf unbestimmte Zeit ausgesetzt war, überwiesen die meisten Eltern einfach weiter ihre Beiträge. Richter begann mit ihren Lehrkräften Videos für die Schüler aufzuzeichnen. Und später, als sie wieder öffnen durfte, befragte sie alle Schüler, ob sie von Corona betroffen waren. „Es gab nicht eine Person, die auch nur in Quarantäne gemusst hatte“, sagt Richter. „Ich vermute also, dass wir keine Superspreader-Einrichtung sind.“ Jetzt, beim zweiten Lockdown ist die Stimmung etwas anders. „Die Leute sind aggressiver“, sagt Richter. Die Eltern zogen ihre Beiträge zurück. Und nicht alle haben noch die Geduld, mit ihren Kindern zu Hause am Laptop den Unterricht durchzugehen. Sie, Richter, könne das verstehen. „Wir haben die Videos dann eingestellt“, sagt sie. Die Zukunft der Musikschule ist ungewiss. „In einigen Monaten könnten wir insolvent sein“, sagt sie. Am Freitag, als mit Hessen wieder deutschlandweit Musikschulen öffnen durften – außer in Sachsen – reichte Richter am Oberverwaltungsgericht Bautzen eine Klage im Eilverfahren gegen die Schließung an. Richter sieht keine Parallelen zu 1989: Und am Samstag will Annett Richter demonstrieren. „Querdenken“, die Initiative des Stuttgarter IT-Unternehmers Michael Ballweg, ist einer der Hauptanmelder der Demo. Auf den Flyer für Samstag ist ein Foto abgebildet, das eine Leipziger Demonstration im Jahr 1989 zeigt. Theoretisch könnte auch Richter darauf zu sehen sein: Damals war sie zum letzten Mal gegen etwas auf der Straße. Wie passend findet sie den Vergleich? „Ehrlicherweise sehe ich da keine Parallelen“, sagt sie. „1989 hatten wir es mit einer Diktatur zu tun, heute mit einer Pandemie.“ Dass manche der Anmelder behaupten, man hätte es heute wieder mit einer Diktatur zu tun, findet sie „absurd“. „Dass es nicht so ist, zeigt doch schon die Tatsache, dass man ungehindert auf die Straße gehen kann“, sagt sie. Annett Richter will sich am Samstag an die Maskenpflicht und Abstandsregeln halten. Sie wird ein Schild mitbringen, auf dem „Nein! Zur Schließung von Musikschulen“ steht. Aber sie wird auch gemeinsam mit Reichsbürgern, Rechtsextremen, Neonazis an einer Kundgebung teilnehmen – jedenfalls war es so bei vielen anderen „Querdenken“-Demonstrationen. Stört sie das nicht? „Ich sehe die Demonstration als Gelegenheit, für Grundrechte zu demonstrieren“, sagt sie, „für das Grundrecht auf Bildung.“ Gespannt sei sie auf die Rede eines Bürgerrechtlers. Für Maskenverweigerer hat sie kein Verständnis. Und für Reichsbürger? „Kein bisschen“, sagt Richter. „Wenn die sich dort breitmachen, dann gehe ich.“ Von Josa Mania-Schlegel