Leipziger OBM Burkhard Jung im LVZ-Talk

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) hat sich gegen Lockerungen ausgesprochen: „Es ist eine sehr angespannte Situation. Wir laufen sehendes Auges ins Verderben“, sagt der Rathauschef im LVZ-Talk mit Reporter Björn Meine rund um Corona. Und beantwortet dabei auch viele Fragen der LVZ-Leser. Seine Botschaft: „Wir werden mit dem Virus leben müssen.“ Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Situation? Burkhard Jung: Ich bin besorgt, von der Weichenstellung in Berlin. Kanzlerin und Ministerpräsidentenkonferenz haben sehr zaghaft und nicht mutig agiert. Sie haben Lockerungen in Aussicht gestellt, die wir nicht halten können. Die Infektionsgefahr hat sich deutlich erhöht. In Sachsen sowieso, aber auch in Leipzig. Kinder und Jugendliche sind stärker gefährdet, gleichzeitig haben wir eine Müdigkeit in der Bevölkerung, die sich Lockerungen wünscht. Es ist eine besorgniserregende Situation für alle – psychisch und existenziell. Leipziger akzeptieren die Regeln: Leipzig hat eine niedrigere Inzidenz als der sächsische Durchschnitt. Worauf führen Sie das zurück? Wir rätseln alle ein wenig. Aber die Leipziger akzeptieren mehr die Regeln als anderswo, wir beobachten wenig Ordnungswidrigkeiten und haben ein gutes Nachverfolgungsregime in unserem Gesundheitsamt entwickelt, bis hin zu Quarantänekontrollen vor Ort. Dennoch steigt die Infektionsgefahr. Die britische Variante scheint wesentlich ansteckender zu sein, wir sind mitten in der dritten Welle. Wie ist die Lage in den Krankenhäusern? In den Leipziger Krankenhäusern haben wir eine beherrschbare Situation. Merken aber deutlich, wie die Belegzahlen der Betten steigen und hören aus Chemnitz und Dresden, wie die dortigen Intensivstationen langsamer voller werden. Das kommt mit einer Verzögerung von zwei bis vier Wochen bei uns in Leipzig an. Das haben wir aus der ersten Welle so gelernt. Jung sieht harten Shutdown als einzigen Weg: Die Bundeskanzlerin fordert wegen der weiter steigenden Fallzahlen von den Ländern, die Notbremse zu ziehen und schärfere Maßnahmen zu ergreifen. Frau Merkel droht auch, notfalls bundeseinheitliche Maßnahmen zu ergreifen. Viele Ministerpräsidenten sehen das anders. Was erwarten Sie? Die richtige Entscheidung wäre ein klarer, knallharter Shutdown gewesen. Das heißt wirklich, mindestens 14 Tage alle Kontakte zu meiden. Wir laufen sehendes Auges ins Verderben und sehen in Dresden und Chemnitz, wie die Intensivstationen voller werden. Es gibt keinen anderen Weg. Sehen sie eine Chance für weitere Modellprojekte für Öffnungen ? Sie müssen in die Zeit passen. Die Botschaft, die von ihnen ausgeht, ist doch: Mit einem vernünftigen Testmodell bekommen wir das alles hin. Das hat dann den psychologischen Effekt, dass viele Menschen die Sache nicht mehr ernst nehmen. Ich rate daher dringend, Modellprojekte an eine Höchstbelastungssituation zu binden. Über Inzidenzwerte von 200 macht ein Modellprojekt keinen Sinn. Es geht doch darum, Kontakte zu reduzieren. Jung: Ein Versprechen, dass man nicht einhalten kann, ist ein falsches Zeichen: Tübingen richtete schon zu Beginn der ersten Welle ein Corona-Testmobil ein, mit dem Alten- und Pflegeheime angefahren wurden. Jetzt ist die Stadt Ihres Amtskollegen Boris Palmer mit einem weiteren Modellprojekt vorne dran. „Öffnen mit Sicherheit“ heißt es. Weitere Beispiele aus Rostock und anderen Städten gibt es. Etliche Leser wie Udo Metzger, Stefan Wunnenburger und Thomas und Bärbel Otto wünschen sich daher mehr Initiative in Leipzig und wollen wissen: Warum haben Sie nicht mal selbst etwas in die Hand genommen und immer nur auf Vorgaben aus Berlin oder Dresden gewartet? Das stimmt so nicht. Wir waren die ersten, die in der ersten Welle eine Buchmesse absagen mussten oder haben Friseure geschlossen, bevor dies in der Allgemeinverfügung so stand. Ich bin immer auf Vorsicht konzentriert gewesen. Ein Versprechen, dass man nicht einhalten kann, ist ein falsches Zeichen. Ich habe mit großem Interesse nach Tübingen geschaut. Aber das ist eine Kleinstadt mit 80 000 Einwohnern und sehr studentisch geprägt. Doch inzwischen ist die Situation kaum noch zu beherrschen. Das zeigt die Sterberate im Tübinger Landkreis. Ich bin zuallererst der körperlichen Unversehrtheit, der Gesundheit der Menschen verpflichtet. Das ist mein Amtseid. Wir sind durchaus Vorreiter gewesen, etwa in der Arena im Sommer 2020. Dort haben wir getestet, unter welchen Bedingungen ein Konzert möglich ist. Aber ich kann keine Lockerungen ankündigen, die ich dann nicht halten kann. Vorher muss das kleine Einmaleins der Sicherheit durchbuchstabiert sein. Am Ende wird man sich fragen müssen: Wie viele Menschenleben hat meine Strategie gefährdet, geschützt oder gerettet? Da bin ich meinem Eid verpflichtet, Schaden von der Stadt abzuwenden. Jung spricht sich für offene Kommunikation aus: In Leipzig gab es größere Ausbrüche in städtischen Senioren-Einrichtungen . Die sind aber nicht durch aktive Kommunikation aus dem Rathaus an die Öffentlichkeit gekommen, sondern eher durch Zufall und durch Hinweise zum Beispiel an die LVZ. Nun sprechen wir mit Blick auf die Politik ja gerade wieder von einer Vertrauenskrise. Ist es nicht brandgefährlich, wenn Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben müssen: Da sollte wohl etwas unter dem Teppich bleiben? Das tut mir leid, wenn dieser Eindruck entstanden ist. Ich fand es nicht in Ordnung, dass dies so spät kommuniziert wurde. Es ist aber auch schwierig: Schließlich wollen wir kein Heim stigmatisieren oder an den Pranger stellen. Offene Kommunikation ist ein wesentlicher Punkt. Deshalb spreche ich auch davon, dass unsere Kinder und Jugendlichen in den Kitas und Schulen stärker gefährdet sind. Ich bin dafür, eine Maskenpflicht schon in der Grundschule einzuführen. Das darf ich aber nicht umzusetzen. Ein weiteres Beispiel: Ich habe entschieden, den Zoo nicht zu öffnen, obwohl es möglich gewesen wäre. Denn er hat eine Ausstrahlung weit über Leipzig hinaus. Die erzeugt eine Mobilität, die Corona nicht dienlich ist. Weitere Testzentren in Paunsdorf und Grünau geplant: In Leipzig ist das erste kommunale Schnelltestzentrum an den Start gegangen, da liefen die Einrichtungen in Nachbarkreisen und Nachbarkommunen schon eine ganze Woche. Warum dauert das so lange? Die Ministerpräsidentenkonferenz hat Testen als Allheilmittel ausgerufen, aber nicht für die notwendige Ausstattung gesorgt. Leipzig hat 600 000 Einwohner, die pro Woche einen kostenlosen Test bekommen können. Wir hatten Mühe, 50 000 Testkits zu besorgen. Ein Testcenter, an dem die Kapazitäten für 40 Leute am Tag reichen, hat wenig Sinn. Daher haben wir uns die nötige Zeit genommen. Inzwischen haben wir ein dezentrales Testsystem organisiert, die Hausärzte und Apotheker einbezogen. „Warum gibt es nicht mehr und gleichmäßig verteilte Testcenter in Leipzig?“, fragt Donald Engel. „Wie und wo werden in Leipzig weitere kostenlose Testkapazitäten auf- und ausgebaut?“, möchte auch Jörg Haubenreißer wissen. Wir planen Testcenter in Grünau und Paunsdorf sowie in der Arena. Und ich setze darauf, dass wir noch mehr Apotheken sowie auch Fachärzte ins Boot holen. Stadtmauer um Leipzig ist nicht möglich: Richard Konitzer fragt: Können wir Leipzig nicht zwei Wochen komplett dicht machen und mit den daraus resultierenden sinkenden Fallzahlen ein Beispiel für andere sein? Das ist die alte Idee der Stadtmauer. Während der Pest war Leipzig geschlossen für Hallenser. Das hat damals funktioniert. Aber wir leben nicht mehr im Mittelalter. Wir können nicht einfach abschließen. Jeden Tag kommen etwa 80 000 Pendler nach Leipzig. 60 000 fahren hinaus. Vor Juli kaum größere Veranstaltungen möglich: Falko Freund will wissen: Findet dieses Jahr das Wave-Gotik-Treffen statt? Ich kann es mir nicht vorstellen. Bei der Gesamtentwicklung und den Einreisebestimmungen. Das heißt aber nicht, dass dies schon entschieden ist. Vor Juli werden aber wohl kaum große Veranstaltungen möglich sein. Wir diskutieren gerade über das Turnfest Anfang Mai. Dort kommen nur Sportlerinnen und Sportler ohne Zuschauerinnen und Zuschauer zusammen. Ich hoffe, dass wir dies mit dem Testsystem bewältigen. Schriftsteller Ralph Grüneberger schlägt vor, im Hof der Stadtbibliothek für die Literaturvereine in Leipzig und deren Publikum eine überdachte Freiluft-Sommerbühne zu schaffen. Dort könnten Lesungen, Vorträge und Poetry Slam stattfinden. Wie finden Sie die Idee? Schöne Idee. Gefällt mir. Das nehme ich mit. Bewegungsdrang von Kindern in Blick nehmen: Cornelia Colditz fragt: Warum hat die Stadt nicht genehmigt, dass der Fußweg in der Karl-Heine-Straße, der dort sehr breit ist, für mehr Freisitze der Gaststätten benutzt werden darf – und wenn ja: vielleicht kostenlos? Die Wirte können dies beantragen, denn es muss gewährleistet sein, dass beispielsweise Feuerwehrzugänge frei sind. Der Stadtrat hat auf meinen Vorschlag Gebühren für 2021 erlassen. Die Möglichkeit besteht aber. Die Stadt verzichtet auf Sondernutzungsgebühren von 1,3 Millionen Euro. Warum darf nur ein Hochleistungssportler aktiv in Sportstätten Sport treiben und wir Normalbürger und vor allem Kinder nicht? Das kann ich kaum erklären. Die Kinder und Jugendlichen müssen wir besonders in den Blick nehmen und dringend etwas tun. Und Formen finden, damit sie ihren Bewegungsdrang ausleben können. Das spreche ich auf Bundes- und Landesebene an. Aber man darf nicht das eine gegen das andere ausspielen. Für Hochleistungssportler ist es auch die Ausübung ihres Berufs. Sportbad bleibt vorerst geschlossen: Elke Hawranke braucht dringend Reha-Sport! Wassergymnastik wurde ihr von den Ärzten und der Krankenkasse empfohlen. Warum kann das Sportbad an der Elster nicht als Bestandteil des Leipziger Modellprojekts öffnen? Jede Insellösung stellt die Frage nach einer weiteren. Es muss zunächst eine Situation entstehen, damit wir uns das wagen können. So hart das jetzt ist. Wissenschaftler sagen, dass eine Öffnung von Schwimmhallen schwierig ist. Die wird wohl erst möglich sein, wenn der Abwärtstrend bei den Infektionen stabil ist. Von Mathias Orbeck