Audio-Deskription Für blinde Zuschauer ist das Schauspiel Leipzig Avantgarde

Im November musste sie zwar ausfallen, die Premiere von „Arabella oder die Märchenbraut“, wenn es dann aber doch eines Tages drunter und drüber geht in der Märchenwelt, und Rotkäppchen statt dem Wolf dem Zauberer Rumburak begegnet, dann kann man das Geschehen auf der Bühne nicht nur sehen, sondern auch hören. Die Audio-Deskription für die Märchen-Inszenierung am Schauspiel Leipzig ist fertig. Blinde Menschen erhalten dann über Kopfhörer eine live eingesprochene Beschreibung, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume fallen. Und dass ein Schmetterling das Idyll perfekt macht. Vorläufig perfekt, der böse Zauberer kommt ja gleich. Noch vor an deren Theatern: Das Theater für möglichst breite Publikumsschichten zu öffnen, war immer das erklärte Ziel von Intendant Enrico Lübbe. Dazu gehört eine besondere Form der Barrierefreiheit: Audio-Deskription (AD) für sehbehinderte Menschen, eingeführt gleich zu Beginn der Intendanz 2013. Der Service hat sich, vom Großteil des Publikums kaum bemerkt, zum wohl umfangreichsten AD-Angebot auf deutschen Bühnen entwickelt. Noch vor anderen Theatern mit einem regelmäßigen AD-Angebot wie etwa dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Für drei bis vier Produktionen pro Spielzeit wird die aufwendige zusätzliche Textfassung erarbeitet und live eingesprochen. Wie es wirkt, wenn die Bilder fehlen, aber eine Stimme aus dem Off die Sprechpausen der Schauspieler nutzt, um Aktionen auf der Bühne zu beschreiben, können Interessierte am Sonnabend um 15 Uhr erleben. Zehn AD-Nutzer pro Vorstellung: Dann streamt das Schauspiel die ersten 15 Minuten der AD-Version von „Arabella oder die Märchenbraut“ mit konsequent schwarzem Bildschirm. Die Inszenierung selbst ist fertig, muss als Weihnachtsmärchen nun aber doch bis Ende des Jahres auf ihre Premiere warten. Am Schauspiel besteht das Angebot für blinde Theaterbesucher aus technischen Gründen nur im großen Saal mit seinen Sprecherkabinen. Dort aber gehören derzeit acht Inszenierungen mit AD-Angebot zum Repertoire. „Es gab auch schon Spielzeiten mit zwölf Inszenierungen“, sagt Maila Giesder-Pempelforth, AD-Autorin und Sprecherin am Haus. „Die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Terminen und Regie-Handschriften für das Publikum muss das Ziel von Inklusion sein.“ In den ersten Spielzeiten wurde das Angebot pro Aufführung von durchschnittlich nur vier Personen genutzt. Inzwischen sind es zehn. „Es spricht sich herum“, sagt Giesder-Pempelforth. Es kommen auch mal Gäste von weit angereist, aus Hamburg oder Baden-Württemberg. Außerdem hatte das Schauspiel bei der Corona-Schließung im Frühjahr bereits drei Stücke mit im Studio produzierter Tonspur gestreamt und die Reichweite vervielfacht. Positive Rückmeldungen kamen aus der Schweiz und Österreich. „Wir folgen dem Rhythmus des Regisseurs“: Zum jeweils zweiköpfigen Autorenteam gehört immer eine blinde Person wie Pernille Sonne. Mit ihr beginnt alles. Sie hört eine Vorstellung, um auszuloten, welche Informationen sprachlich vermittelt werden müssen. Und wie gesprochen werden soll: „Wir folgen dem Rhythmus des Regisseurs“, sagt Sonne. Wie wird aber mitunter überbordendes Bühnengeschehen mit seinen parallelen Elementen eingefangen? Nicht immer gelingt es, alles zu beschreiben. „Wir versuchen einen relevanten Fokus zu setzen, einen Filter für Handlung und Stimmungen“, sagt Giesder-Pempelforth. Vom roten Faden, der sich durchziehen muss, spricht Sonne. Vor allem aber können die Besucher die Bühne und einige Kostüme vor Vorstellungsbeginn haptisch erfahren und eine Einführung hören. Sonne verweist auf die Inszenierung „Der Besuch der alten Dame“, die in dieser Spielzeit Premiere am Schauspiel hatte. Regisseur Nuran David Calis zeigt die Enge des Dorfes, wie sich seine Bewohner belauern, durch ein Geflecht aus Plexiglasräumen. Wer die Dimensionen der Räume und das Labyrinth der Wände vorher ertastet, kommt später mit kurzen Ortsangaben aus. Wenn Schauspieler improvisieren, wird es schwierig für die Sprecherin: In rund zwei Wochen entsteht ein professionelles AD-Skript. Ausruhen kann sich Sprecherin Giesder-Pempelforth darauf nicht. „Theater verändert sich in jeder Vorstellung“, sagt sie. „Wenn es mit den Schauspielern durchgeht, wenn sie improvisieren, dann wird es sportlich“, ergänzt Sonne. Die Sprechpausen auf der Bühne ändern sich. Giesder-Pempelforth muss den Rhythmus erspüren, um Zeit für ihren Text zu finden und dennoch künstlerische Pausen auf der Bühne wirken zu lassen. Denn: „Auch in der Stille geschieht etwas“, sagt sie. Inzwischen gibt es am Schauspiel auch ein taktiles Leitsystem für Blinde. Und eine Lounge, in der die Führhunde während der Vorstellung warten. „Scheinbar kleine Dinge“, sagt Giesder-Pempelforth. „Aber wichtig.“ Einen Eindruck des Audio-Deskriptions-Angebots vermittelt das Schauspiel Leipzig am 16. Januar, 15 Uhr, mit den ersten 15 Minuten der AD-Fassung von „Arabella oder Die Märchenbraut“ (bis 20. Januar, 10 Uhr). Online ist außerdem die Reihe „Ensemble & Gäste“ zu sehen. Für den 27. Januar lädt Wenzel Banneyer zum „Club Virale“. Ein Audiowalk von Heike Geißler zur Residenzproduktion „Gob Squad’s 1984“ lässt sich downloaden. www.schauspiel-leipzig.de Von Dimo Rieß