Ein Jahr Corona in Leipzig: Die Kulturszene der Stadt liegt in Trümmern

Im Schauspiel Leipzig sind im ersten Jahr mit Corona hunderte Vorstellungen und Dutzende Premieren ausgefallen oder in Notvarianten gemündet. Im Theater der Jungen Welt sieht es nicht anders aus. In Oper, Musikalischer Komödie und Ballett fielen 14 Produktionen aus oder wurden mit der Brechstange fürs Minipublikum auf Pandemie-Format gebracht. Das Gewandhausorchester spielte sein letztes Großes Concert, das diesen Namen auch besetzungstechnisch verdiente, vor 362 Tagen und seither gut 70 nicht am Augustusplatz und auf Tour in Europa und Asien. Die Spielzeiten der Klangkörper beim MDR sind kollabiert und haben die neuen Chefs von Chor und Orchester in den Wartestand zurückversetzt, die Thomaner haben zwei Passions- und eine Weihnachtssaison verloren. Und auch hier wird der neue Thomaskantor mit dem Beginn des neuen Schuljahres gewiss nicht in eine postpandemische Normalität einsteigen. Das Bildermuseum musste wichtige Ausstellungen verschieben oder absagen, dem Grassimuseum und der Galerie für Zeitgenössische Kunst erging es nicht besser. Bis hierher ging es fast nur um die Privilegierten, die zwar zur Untätigkeit verdammt und ihres Lebensinhaltes beraubt sind, die aber, weil sie angestellt sind bei öffentlichen Institutionen, immerhin keine Existenzängste plagen. Das sieht schon im internationalen Tourgeschäft in Arena, Haus Auensee, Gewandhaus, Täubchenthal und Co. anders aus. Hier nimmt die vierte Verschiebungsrunde bereits das Jahre 2022 ins Visier – und auch dies scheint recht optimistisch. Künstler in Leipzig: Freischaffende verlassen das sinkende Schiff: Das liegt an der immer sichtbarer Anlauf nehmenden dritten Pandemiewelle, aber auch daran, dass die Veranstaltungswirtschaft nicht sanft ins Federbett der Kurzarbeiter-Regelungen fällt. Bei Veranstaltungshäusern, Kabaretts und Privattheatern, den Gastspielbühnen, die jenseits städtischer Ballungsräume die Kulturversorgung schultern, sieht es nicht anders aus – und schon gar nicht bei den Freischaffenden, die sie bespielen. Wer kann, verlässt das sinkende Schiff der darstellenden Künste und heuert woanders an. Vielleicht immerhin in der Hoffnung zurückzukehren, wenn die Wogen einer letzten Corona-Welle sich geglättet haben. Nun mag man einwenden, es sei dies Jammern auf hohem Niveau. Und tatsächlich helfen die meisten Staaten ihren Kulturschaffenden weniger oder gar nicht durch die Pandemie. Muggen-Musiker am New Yorker Broadway, Schauspielerinnen vom Londoner West-End, Sänger in Spanien, Regisseure in Frankreich können nur träumen von Hilfsprogrammen, wie sie hierzulande aufgelegt wurden. Gewiss: Ihre bürokratischen Hürden sind zu hoch, die Verteilungsschlüssel fragwürdig. Leipzigs Kulturszene: Tiefe Verunsicherung: Noch größere Fehler wurden allerdings an anderer Stelle gemacht, und sie trafen die Kulturschaffenden ins Mark: Zuerst sortierten Lockdown-Regelungen, Schließungs- und Öffnungsszenarien sie kurzerhand im Freizeitsektor ein unter ferner liefen und auf Augenhöhe mit Bars und Bordellen. Dann blieben ihre offenen und Brandbriefe, Petitionen und Manifeste unbeantwortet. Schließlich bügelten die, deren Aufgabe es wäre, sich gerade jetzt für die Kultur und ihre Akteure einzusetzen, deren Anliegen ab: Nordrhein-Westfalens parteilose Kulturministerin Isabel Pfeifer-Poensgen etwa riet der Kulturszene nicht nur in ihrem Bundesland, sie müsse „aufpassen, dass sie nicht immer eine Extrawurst brät“. Dabei konnte und kann von Extrawürsten keine Rede sein. Bei Kinos und Konzertveranstaltern, Kabaretts und Varietés, Theatern und Clubs, Museen und Galerien war die Bereitschaft groß, Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie umzusetzen und mit eigenen Konzepten darüber hinauszugehen. Lesen Sie auch Hier lesen Sie alle Beiträge zum LVZ-Thementag „Ein Jahr Corona in Sachsen“ Überdies haben in der Zwischenzeit gleich mehrere Gutachten nachgewiesen, dass die Ansteckungsgefahr in Theater, Kino, Konzertsaal weit geringer ist als im Personennahverkehr oder in der Schule. Genutzt hat es nichts. Seit fünf Monaten herrscht ein pauschales Aufführungsverbot. Wo November- oder sonstige Hilfen fließen, tun sie es mit dem Gestus eines Almosens – für das sich indes seine Empfängerin oder sein Empfänger normalerweise nicht zunächst an der Papierkriegsfront bewähren muss. Im Ergebnis sind Kulturschaffende zutiefst verunsichert angesichts einer Situation, die es absurd erscheinen lässt, dass in der Bundesrepublik seit 40 Jahren in Sonntagsreden dafür plädiert wird, die Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Kultur nach Kassenlage: Tatsächlich sah es in den letzten Jahren bisweilen so aus, als habe sich das Klima verbessert. Aber die Pandemie zeigt nun, dass die Kürzungsrunden, die Fusions- und Schließungsdebatten von einst nicht der Einsicht in den Wert der Kultur gewichen sind, sondern nur verstummten, weil die wirtschaftliche Lage sie vorübergehend obsolet machte. Anders war es in den Duodezfürstentümern vergangener Jahrhunderte auch nicht, denen wir bei Lichte besehen unseren institutionellen Kulturreichtum verdanken – und die sich Künstlers bei Hofe nach Kassenlage hielten. Um die wird es in der postpandemischen Zeit schlecht bestellt sein. Wegen der gewaltigen Summen, die der Staat bereits ins wankende Gemeinwesen pumpte. Und wegen der vielen noch immer ungeklärten Kulturfragen. Denn selbst wenn im April eine Art Spielbetrieb wieder möglich sein sollte, wonach es derzeit nicht aussieht, wird dies aufgrund von Abstandsregeln vor so wenig Publikum stattfinden, dass es kaum zur wirtschaftlichen Erholung beitragen wird. Dazu kommt das Problem der vielen Tausend Eintrittskarten, die allein in Leipzig bereits vor Monaten gekauft wurden für Veranstaltungen, die in der Verschiebungsschleife festhängen, und damit bis auf Weiteres neue Umsatzmöglichkeiten blockieren. Kultur in Leipzig: Keine Chance zur Selbstausbeutung: Wohl auf keinem anderen Gebiet ist die Bereitschaft zur Selbstausbeutung so stark ausgeprägt wie bei freien Kulturschaffenden. Im Gegenzug ist die Gelegenheit zum persönlichen Lustgewinn nirgends höher als bei einer Arbeit, die das Potenzial hat, andere Menschen glücklich zu machen oder wenigstens für einen Augenblick aus dem Alltag zu holen. Doch ohne Auftrittsmöglichkeiten fällt das weg – und ohne Perspektive selbst die Möglichkeit zur Selbstausbeutung. Nicht wenige werden daraus bereits ihre Schlüsse gezogen haben. Doch erst wenn die Pandemie überstanden ist und der Rauch sich gelegt hat über dem Trümmerfeld, das sie hinterlässt, werden wir wissen, wie viele es sind. Ganz sicher werden wir sie dann vermissen. Von Peter Korfmacher