Gott und die Flüchtlinge: Puppenspieler Neville Tranter zeigt respektlose Satire „Babylon“ im Westflügel Leipzig

Möwengeschrei kommt aus den Lautsprechern. Aber beschauliche Hafenatmosphäre macht sich nicht breit. Ein letztes Schiff wird ablegen, das Schleuserboot nach „Babylon“. Und es bietet nicht genug Platz für alle Flüchtlinge. „Babylon“ – in der Inszenierung von 2017 setzt sich Puppenspieler Neville Tranter mit dem Schicksal von Tausenden von Flüchtlingen auseinander. Und mit einem mit sich selbst ringenden Europa, zerrissen zwischen moralischem Anspruch und Abwehrreflex. Dass daraus eine humorvoll satirische Inszenierung entstehen kann, die große Gedanken wälzt, zeigte Tranter in seinem Solo mit acht Klappmaulpuppen am Freitagabend im Westflügel. Plappern, leiden, hoffen: Tranter, gebürtiger Australier, seit Jahrzehnten mit seinem „Stuffed Puppet Theatre“ in den Niederlanden zu Hause, gehört zu den Größen des Genres. Er hat Generationen von Puppenspielern geprägt, darunter Nikolaus Habjan, mit dem er bei der gerade abgesagten euro-scene einen Duo-Abend spielen sollte. Tranter setzt seine Puppen wie Schauspieler ein, legt ihre Psyche offen, lässt sie unermüdlich plappern, leiden, hoffen, die Handlung vorantreiben. Ein schauspielerischer Kraftakt permanenter Rollenwechsel. Tranter erzählt noch Geschichten. Geschichten, die schon in der Werkstatt beginnen, wenn die Puppen Form annehmen und als grimmiger Kapitän oder unschuldiger Schwarzer Flüchtlingsjunge den Weg auf die Bühne finden. Oder eben als ein Gott, der altersverwirrt durch den Himmel tappst, begleitet von Erzengel Uriel mit Bürokraten-Gesicht. Oder Jesus, der aussieht wie ein Alt-Hippie. Wegschau-Mechanismus: Inhaltlich geht es um den Kapitän, der Geld will, Flüchtlinge, die auf das Boot drängen und himmlisches Personal, von dem man erwarten möchte, endlich einzugreifen. Die Gefahr, dabei in plakative Fahrwasser zu geraten, entschärft Tranter souverän, indem er seine Figuren ambivalent auflädt. Nicht mal der knurrige Kapitän ist so eindeutig, wie er auf den ersten Blick scheint. Er brüllt Menschen nieder, um nichts von deren persönlichen Schicksalen zu erfahren. Tranter überspitzt mit ihm den gängigen Wegschau-Mechanismus. Uriel steht für die politische Kaste. „Laut Statistik bist du populärer als je zuvor“, hält er Gott vor, der mit dem Geschehen auf Erden hadert. Der greise Gott – das lässt der Abend in der Schwebe – erinnert sich seiner Allmächtigkeit nicht oder hat sie nie besessen. Stich in die Lethargie-Blase: Der respektlose Umgang mit Gott und Jesus, die Vater-Sohn- und Jesus-Teufel-Debatten (Teufel: „Du redest schon wie dein Vater“) und die Missverständnisse, wenn sie auf Menschen treffen, sorgen für Komik. Jesus darf am Ende nicht auf das später sinkende Schiff. Weil sein Schaf Binky nicht an Bord gelassen wird. Das Schäfchen rettet den Hirten, nicht umgekehrt. Tranter bietet keine Lösungen an und wedelt nicht mit dem moralischen Zeigefinger. Aber er sticht unterhaltsam in die Lethargie-Blase, die sich über die kollektive Hilflosigkeit gelegt hat. Die Vorstellung am Samstagabend, 20 Uhr, ist ausgebucht. Evtl. Restkarten an der Abendkasse. Mehr Infos: www.westfluegel.de Von Dimo Rieß