Im Lichtkegel liegt der Grundriss der Wohnung. Balkon und Ofen, schön, aber nach einigen Sekunden ist allen klar: Sechs Leute und fünf Zimmer, es wird schwierig mit der Aufteilung. Zumal sich die WG-Mitglieder eben erst kennengelernt haben, zusammengewürfelt in der interaktiven Persönlichkeits-Evaluations-Simulation „Total Therapy“ der Berliner Performance-Gruppe Interrobang. Im Theaterkontext wird über die Zimmerverteilung diskutiert, die sich deshalb nie in der Praxis bewähren muss. Aber es geht um den Weg zur Lösung, um Ideen, Gesprächsführung, Verhalten in der Gruppe. Jeder bewertet jeden in der Produktion von Interrobang, die am Donnerstagabend in der Residenz des Schauspiels Leipzig Premiere feierte.
Die Berliner Gruppe um die Kernbesetzung Nina Tecklenburg, Till Müller-Klug und Lajos Talamonti schließt ihre Gegenwartsanalysen immer wieder mit partizipativen Theaterformen kurz, die darauf abzielen, gesellschaftliche Entwicklungen spielerisch erfahrbar zu machen. „Prozess 2.0“, in der Residenz 2016 produziert, drehte sich noch um den inneren Zensor und mögliche Anklagen wie „unterlassene Selbstverwirklichung“. „Total Therapy“ nun startet von ähnlichem Grund, geht von einer Gesellschaft aus, in der sich das Individuum einem umfassenden Wettbewerbsdruck ausgesetzt sieht und nach Selbstoptimierung strebt. Was in einer Übertherapeutisierung von angenommenen Mängeln mündet.
Therapeuten, das sind die anderen an diesem Abend. Zumindest der erste Therapieschritt, die Analyse, wird umgesetzt: Jeder bewertet in verschiedenen Spielrunden jeden. Was schon zum Auftakt zu einem bizarren Vorurteils-Reigen führt, wenn das Publikum auf Teppichkreisen durcheinanderläuft, um ein Zettelkonvolut aus Charakterzuschreibungen gemäß erstem Eindruck zu verteilen. Wer hat es im Treppenhaus immer eilig? Wer gibt sich links, schaut aber weg, wenn der Nazi-Nachbar die Türkin beleidigt? Das in etwa ist die Spannbreite.
Je nach Bewertungen erhalten die Spieler farbige Eigenschaftskarten und mit jeder Runde – ob bei der Präsentation der eigenen Start-up-Idee oder einer Befragung in einer Art Beichtstuhl – erweitert sich das Kartenset aus Eigenschaften wie Ehrgeiz, Dominanz, Angst, Bosheit oder Mitgefühl. Die Persönlichkeit gewinnt sichtbar Kontur, die Logik des Abends erschließt sich und erlaubt Taktiererei.
Der humorvolle Feedback-Parcours lässt sich wunderbar spielerisch durchlaufen, ohne peinliche Konfrontationen oder entblößende Momente, die manche Performer bewusst einbauen, um ihre Botschaft einzuhämmern. „Total Therapy“ sorgt für eine feine Doppelbödigkeit, weil man sich als Mitspieler nicht nur mit der eigenen Person und Wirkung auseinandersetzt. Ebenso muss man sich fragen, ob man einem anderen unvoreingenommen gegenübertritt, wenn man dessen vermeintliches Psychoprofil eingesehen hat. Womit der Abend von der individuellen zur politischen Ebene springt: Die Profile erinnern an das in China eingeführte System der Sozialpunkte, die für Verhalten vergeben werden, Lebenschancen beeinflussen und als politisches Kontrollelement eingesetzt werden.
Das mit den Sophiensaelen Berlin und dem Wiener WUK koproduzierte „Total Therapy“ wurde in Berlin bereits in einer Art Beta-Version getestet. Bei der Premiere in Leipzig wirkt die Produktion ausgereift und stimmungsvoll eingerichtet mit punktuell ausgeleuchteten Spieltischen im weiten Industriesaal.
„Total Therapy“, Schauspiel Residenz, 16. bis 18. April, 20 Uhr; Kartentelefon: 0341 1268168
Von Dimo Rieß