Sachsen und die Reichsgründung: „Die Sachsen zeigten ein gesundes Selbstbewusstsein“

Vor 150 Jahren, am 18. Januar 1871, wurde das Deutsche Kaiserreich gegründet. Der einheitliche Nationalstaat, den viele Menschen seit den Napoleonischen Kriegen herbeigesehnt hatten, war Wirklichkeit geworden. Nach Jahrhunderten unter der Führung der Habsburgermonarchie, fanden sich nun die deutschen Staaten unter Preußens Führung zusammen. Der König von Preußen war damit auch Deutscher Kaiser. Wir sprachen darüber mit dem Historiker Werner Rellecke, Leiter des Referates Publikationen der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung. Am 18. Januar 1871 wurde Sachsen Teil des neugegründeten Deutschen Reiches. Weshalb fehlte der sächsische König Johann bei der Proklamation im Spiegelsaal von Versailles? König Johann hatte auf dem Weg zu einem deutschen Nationalstaat eine großdeutsche Lösung unter Einbeziehung Österreichs favorisiert. Trotzdem begrüßte er die Einigung von 1871. Was ihm nicht gefiel, das waren die verfassungsmäßigen Regelungen. Er verstand sich als vehementer Befürworter eines deutschen Bundesstaates mit starken föderalen Elementen. Aus seiner Sicht beschnitt die neue Reichsverfassung die Souveränität der Mitgliedstaaten zu sehr. Bei der Kaiserproklamation in Versailles wurde Sachsen von den Prinzen Albert und Georg jedoch hochrangig vertreten. Beide hatten aktiv am Krieg teilgenommen und besonders Albert hatte sich als Oberbefehlshaber der Maas-Armee große Verdienste erworben. In Dresden gab es am 11. Juni 1871 eine bejubelte Siegesparade. Wie viele Einwohner lebten vor 150 Jahren im Land und wie stand die Bevölkerung zu dem von Otto von Bismarck geschaffenen und vom ungeliebten Preußen geführten Kaiserreich? 1871 lebten in Sachsen etwa 2 556 000 Einwohner mit steigender Tendenz. Das politische Verhältnis zu Preußen war seit Beginn des Jahrhunderts stark belastet. Sachsen hatte zuletzt 1866 an der Seite Österreichs den Krieg gegen Preußen verloren. Es musste anschließend dem Norddeutschen Bund beitreten, der von Preußen dominiert wurde. Die Reichsgründung von 1871 bot nun insgesamt keine schlechtere Perspektive als der Weiterbestand des Norddeutschen Bundes. In Dresden und Sachsen war man stolz auf den Sieg gegen Frankreich, an dem die Prinzen Albert und Georg einen erheblichen Anteil hatten. Auch über die deutsche Einigung im Rahmen des Kaiserreiches herrschte weitgehend freudige Zustimmung. Am Ende des Jahrhunderts veränderte sich sogar das Bismarck-Image im Lande, so dass auch in Sachsen Bismarcksäulen und -türme aufgestellt wurden. Wie veränderte sich die konstitutionelle Monarchie im Königreich Sachsen? Sachsen musste 1871 eine weitere Einschränkung seiner Souveränität in Kauf nehmen. Das Königreich Sachsen wurde in vielen Bereichen zum Erfüllungsorgan der Reichsebene. Auch das Gewicht Sachsens im gesamtdeutschen Bundesrat verringerte sich im Vergleich zu den Verhältnissen im Norddeutschen Bund. Eine symbolträchtige Konsequenz der neuen Verhältnisse war, dass Sachsen keine Außenpolitik mehr betreiben durfte und die sächsischen Botschaften und diplomatischen Vertretungen im Ausland aufgelöst wurden. Innenpolitisch blieb das sächsische Parteien- und Wahlsystem weniger modern und demokratisch als auf nationaler Ebene. So hinkte bis 1919 das sächsische Landtagswahlrecht dem Wahlrecht zum Deutschen Reichstag um Jahrzehnte hinterher. Wirtschaft, Verwaltung und Kultur profitierten von der Einigung. Ende des 19. Jahrhunderts galt Sachsen mit seiner schnellen Industrialisierung als modernster deutscher Staat. Was waren die markantesten Entwicklungen? Nach den großen Gebietsverlusten von 1815 war Sachsen gezwungen, Staat und Wirtschaft neu zu strukturieren. Der Beitritt zum Deutschen Zollverein 1834 beflügelte den innerdeutschen Handel. Die Blüte von Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie der Eisenbahnbau waren günstige Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufstieg. Hinzu kamen eine große Innovationsfreudigkeit sächsischer Unternehmer und ein hohes Leistungsniveau der Facharbeiterschaft in Wirtschaftszweigen wie Maschinenbau, Druck- und Verlagswesen oder Textilindustrie. Im politischen Bereich wurden besonders unter König Johann Verwaltung und Gesetzgebung vorbildlich modernisiert. Zugleich stand die Mehrzahl der sächsischen Industriearbeiter dem neuen Staatssystem kritisch gegenüber. Woran lag das? Ursache für diese Konfrontation war eher die konkrete Bismarck’sche Politik als das Staatssystem. So galt zum Beispiel das Wahlrecht zum Deutschen Reichstag als sehr modern. Aber Reichskanzler Otto von Bismarck wollte mit dem Kulturkampf gegen die Katholiken und mit den Sozialistengesetzen gegen die Sozialdemokratie seine konservativen gesellschaftspolitischen Vorstellungen mit Zwang durchsetzen. Beides scheiterte nicht nur, sondern stärkte den Zusammenhalt und die Organisationskraft von Katholiken und Arbeiterbewegung. Die politische Kultur des Kaiserreiches war bereits zu modern und zu demokratisch für eine Unterdrückungspolitik nach Gutsherrenart. Ist von dieser „kritisch-renitenten Haltung“ im Kaiserreich bis heute etwas in der sächsischen Bevölkerung erhalten geblieben? Der Begriff „kritisch-renitent“ passt hier nicht so recht. Zum einen gab es in Sachsen immer auch staatstragende bürgerliche und konservative Kräfte, die an der Wahlurne immer mindestens ein Drittel der Wählerschaft für sich gewinnen konnten. Zum anderen zeigten die Sachsen aufgrund ihrer wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften lediglich ein gesundes Selbstbewusstsein – vielleicht einen gewissen Hang zur Eigenbrötlerei. Die sächsischen Arbeiter und ihre Organisationen galten im deutschlandweiten Vergleich als gemäßigt und größtenteils nicht revolutionär. Nehmen sogenannten Reichsbürger heute Bezug auf das im November 1918 untergegangene Kaiserreich.? In Sachsen gibt es aktuell rund 1000 „Reichsbürger und Selbstverwalter“. Bundesweit werden 19 000 Personen dieser Szene zugerechnet. „Reichsbürger“ beharren auf dem Fortbestand des Deutschen Reiches. In ihren Augen existierte seit der Abdankung Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1918 kein rechtmäßiger deutscher Staat mehr. Entsprechend wird die Existenz der Bundesrepublik Deutschland von den „Reichsbürgern“ geleugnet. Die Ablehnung unserer staatlichen Institutionen und des Rechtsstaat mündeten mehrfach in gewalttätigen Angriffen. Folglich steht die Szene seit 2016 unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Werner Rellecke wurde 1964 in Belecke (Nordrhein-Westfalen) geboren. Er studierte Geschichte, Philosophie und Politische Wissenschaften in Bonn und Münster. Seit 1992 wohnt er in Dresden und ist in der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung tätig, derzeit als Referatsleiter Publikationen. Von Bernd Lähne