Sparwassers Tor und die Kiste der Stasi: Der Comic "Das Spiel der Brüder Werner"

Das Spiel ist historisch. Mit 1:0 schlug die Auswahl der DDR die Nationalmannschaft der BRD in der Vorrunde der Weltmeisterschaft 1974 in Hamburg bei ihrem einzigen Aufeinandertreffen. „Das Spiel der Brüder Werner“, eine Graphic Novel aus Frankreich, die vor wenigen Tagen auf Deutsch erschien, lässt den Torschützen Jürgen Sparwasser jubeln und Paul Breitner ins Leere schauen. Das Fußball-Duell ist Kulminationspunkt einer weit ausgreifenden Story. Autor Philippe Collin, Historiker und Journalist beim französischen Radiosender France Inter, interessiert sich für das, was hinter den Kulissen geschieht in Ost und West. Für zwei höchst unterschiedliche Lebenswirklichkeiten. Vor allem für den gewaltigen Apparat, den die Stasi in der von Erich Mielke befehligten „Operation Leder“ auffährt, um keinen der Spieler, Betreuer und sorgsam ausgewählten Fans an den Klassenfeind zu verlieren. Eine Holzkiste stand in einem Hamburger Appartement bereit, um flüchtige Teammitglieder zurück in den Osten zu schmuggeln. Gebraucht wurde sie nicht. Collin schöpft aus intensiver Recherche. Die Protagonisten aber sind fiktiv. Die Brüder Konrad und Andreas Werner irren als Kriegswaisen durch Berlin, schlagen sich 1953 nach Leipzig durch. Zeichner Sébastien Goethals fängt das Panorama der Leipziger Innenstadt ein, im Hintergrund steht noch die Paulinerkirche. Hier geraten die Brüder bei einem kleinen Vergehen erst in die Hände der Behörden – und beginnen dann eine steile Stasi-Karriere. Ein Bruder-Konflikt endet im Verrat: Konrad geht als Agent in die BRD, gründet dort eine Familie, infiltriert als Betreuer den deutschen Fußball. Andreas wird kurz vor der WM als Physiotherapeut in die DDR-Mannschaft geschleust. 1974 treffen sie sich nach zwölf Jahren erstmals wieder. Andreas zweifelt am System Ost. Konrad, mit allen Privilegien des Lebens im Wirtschaftswunder-Westen ausgestattet, bleibt in seinem BMW linientreu. Ein Konflikt bahnt sich an und endet im Verrat. Position bezieht das um einen jederzeit differenzierten Blick bemühte Buch nicht. Der vor allem in der ersten Hälfte hastige historische 30-Jahre-Bogen entpuppt sich als Schwäche und Stärke zugleich. Schwäche, weil die Schlüsselmomente recht plakativ montiert sind. Und weil die Story zusätzlich mit einer jüdischen Abstammung der Werners und einer Rache-Exekution an einem ehemaligen SS-Mann überladen wirkt. Biografien, vollgepackt mit historischem Ballast, der zu komplexen Gewissensfragen führt. Der Versuch, dem Leser alle historischen Facetten aufzufächern, gerät recht durchsichtig. Europäische Jugend unter dem Dröhnen totalitärer Ideologien: Dafür führt die Dramaturgie die geschichtlichen Entwicklungspfade übersichtlich unter dem Brennglas zusammen. Collin betrachtet seine deutsch-deutsche Story aus wohltuender Außenperspektive, sprengt den verengten deutschen Ost-West-Blick mit seinen bis heute kultivierten Gegensätzen und Befindlichkeiten. Es gehe ihm, so hat Collin es einmal in einem Interview formuliert, um „eine europäische Jugend unter dem Dröhnen totalitärer Ideologien“. Er schaut auf Individuen und fragt, wie sie sich in den Zwängen der Zeitumstände behaupten können. Mit dem gleichen Interesse hat Collin bereits den Comic „Die Reise des Marcel Grob“ verfasst. Es ist die zum Bestseller avancierte Geschichte seine Großonkels, der von der SS zwangsrekrutiert wurde und anschließend mit dem Verdacht leben musste, Kollaborateur der Nazis zu sein. In „Das Spiel der Brüder Werner“ zeichnet Goethals die politischen und fußballerischen Eliten der 70er Jahre gut erkennbar. Seine Handschrift als Thriller-Zeichner wird deutlich, wenn er die Szenen mit verwaschenen Grau- oder Braunschattierungen dramatisch auflädt. Die Handlung ist passend zur aufgewühlten Bildsprache unterhaltsam schnell geschnitten. Und zwischendurch nicht ohne Komik, wenn mit dichterischer Freiheit ein Konflikt zwischen Franz Beckenbauer und Paul Breitner erzählt wird. Breitner, der West-Maoist, der für eine WM-Prämie in Streik tritt. Anders als im Comic dargestellt gibt es auf einen DDR-Maulwurf im Dienst des DFB keine Hinweise in den Archiven. Darüber klärt auch ein Anhang des Buches auf, das in die historischen Fakten eine psychologisch schlüssige Brudergeschichte baut. Philippe Collin, Sébastien Goethals: Das Spiel der Brüder Werner. Graphic Novel. Splitter Verlag; 152 Seiten, 25 Euro Von Dimo Rieß