Von Brasilien über New York nach Dresden: die Tanzprofessorin Juliana Sabino Wilhelm

„Das ist mir viel zu winzig. Du wirkst, als hättest Du ein Kätzchen im Arm. Ich will aber eine richtig dicke Oma.“ Juliana Sabino Wilhelm sitzt im Tanzsaal 8 der Palucca Hochschule in Dresden kerzengerade auf einem Stuhl, direkt mit dem Rücken zur verspiegelten Wand. Vor ihr stehen Schülerinnen der Nachwuchsförderklasse 3, alle im Alter von etwa 15 Jahren. Keine ihrer Bewegungen entgeht der Lehrerin, die mit 28 Jahren als Professorin für Klassischen Tanz Sachsens jüngste Vertreterin mit diesem akademischen Grad ist. Sie strahlt vor Begeisterung. Es braucht nicht lange, bis man der gebürtigen Brasilianerin die Leidenschaft für ihre Lehrtätigkeit anmerkt. Mehr als „Kinderkram“: Sie kam früh zum Tanz, ihre Mutter suchte nach einer Möglichkeit, die überbordende Energie der Tochter in geordnete Bahnen zu lenken. Schnell war der das einfach nur „Kinderkram“, sie wollte mehr. Bis zum Alter von zwölf Jahren tanzte sie verschiedene Stile: Jazz, Hip-Hop, Flamenco. Sie wollte sich zwar auf Ballett spezialisieren, war aber als Kind klein und pummelig. Die Ablehnung seitens der Ballettschule kam prompt. Motivierende Offenheit: Beobachtet man heute diese schlanke junge Frau in ihrer bestätigenden und motivierenden Offenheit, die die geborene Pädagogin zeigt, lässt sich das kaum vorstellen. Sie lobt ihre Schülerinnen, zeigt dabei, dass es nicht um Leistung allein geht. Sie will ihre Elevinnen stärken, ihnen Selbsteinschätzung vermitteln. Nur so können sie auch technische Risiken eingehen und sich entwickeln. Plötzlich zu groß: Ihre eigene persönliche Entwicklung hat Juliana Sabino Wilhelm schnell und mit Nachdruck betrieben. Als sie mit 13 Jahren die körperlichen Voraussetzungen für die Annahme an der Ballettschule erfüllte, musste sie feststellen, dass sie in vielen Aspekten schlichtweg hinterherhinkte. Ein Privatlehrer sollte dieses Defizit ausgleichen. Das Verhältnis entwickelte sich so gewinnbringend, dass sie mehr Stunden nahm, als sie eigentlich brauchte. Und er war es auch, der ihr dabei half, im Wortsinn nicht an die Decke zu stoßen. Mit einer Körpergröße von 1,73 Meter in einem Alter von 14 Jahren war sie nämlich plötzlich zu groß. Er ebnete mit seinen Verbindungen den Weg für die junge Tänzerin. Wir sind nicht unerreichbar: Damit wagte sie 2006 den Schritt von Rio de Janeiro nach New York, wo sie bis 2009 an der School of American Ballet lernte. „Ich mag die Herausforderung, auch, an mir selbst zu arbeiten“, sagt sie. Das spiegelt sich in ihrer Lehrtätigkeit. „Als Pädagogen sprechen wir die gleiche Sprache wie die Schülerinnen. Wir sind nicht unerreichbar. Das zu vermitteln. ist wichtig. Dafür brauchen wir eine Basis des Vertrauens.“ Verbindender Master: Mit der Palucca Schule ist sie inzwischen viele Jahre verbunden, seitdem sie 2009 in deren Eleven-Programm aufgenommen wurde. Hier machte sie ihren Masterabschluss und verband schon in ihrer Masterarbeit die tanztechnischen Felder, die sie bis dato so stark geprägt hatten: die russische Vaganova-Methode und die Dynamik der in New York gelehrten Balanchine-Technik. „nicht jede Stunde verläuft gleich“: Diesem Kurs folgt sie bis heute, was auch die Struktur der Hochschule ermöglicht: „Unser Rektor Jason Beechey lässt uns Pädagogen sehr viele Freiheiten. Damit habe ich in meinen Klassen kein tägliches Ziel. Es sind eher Prozesse, die ich begleite und voranbringen will. Für die Schülerinnen soll es ein Ziel geben, nicht unbedingt für mich. Deshalb können wir auch mal einen Schritt zurückgehen. Nicht jede Stunde verläuft gleich. Vieles ist auch abhängig von der Tagesform.“ „Kritik sollte niemals negativ beurteilt werden“: Besonders wichtig ist dabei ein besonderes Maß an Sensibilität nicht nur den Leistungsstufen, sondern auch den Altersklassen gegenüber. Das zeigt sich im Unterricht mit bereits weiterentwickelten Schülerinnen. Sie stehen bereits mühelos auf Spitze. Juliana Sabino Wilhelm erscheint ihnen gegenüber als eine ganze Andere, strenger, kritischer – und damit auch fordernder. Sie arbeitet hier weniger über Intuition und das Vorzeigen von Bewegungsabläufen. Sie erklärt viel und stellt fest, die Schülerinnen wirkten, als hätten sie Angst, sich zu bewegen. „Das bringen die körperlichen Veränderungen der Pubertät mit sich. Man wird dann vorsichtiger. Deshalb ist uns eine gute Feedback-Kultur sehr wichtig. Lob ist ab einem bestimmten Alter wieder besonders wichtig. Und Kritik sollte niemals negativ bewertet werden. Intensität in der Präzision sollten beide Seiten anstreben.“ „Es muss immer menschlich bleiben“: Juliana Sabino Wilhelm hat das vorgemacht. Das Ballett der Semperoper war nur eine ihrer Stationen. Dort tanzte sie unter anderem in Arbeiten von Forsythe, Balanchine und Cranko. Sie weiß also, wovon sie spricht, wenn sie sagt, es sei wichtig, Dinge auszuprobieren, zu sehen, ob es klappt. „Das ist anstrengend, keine Frage. Es muss aber immer ein Erlebnis bleiben. Man darf nicht leiden, sondern muss es genießen können. Wenn das nicht mehr der Fall ist, dann ist das ein Problem. Dann müssen wir da ran. Es darf keine Pflicht werden, sondern muss immer menschlich bleiben.“ Von Rico Stehfest

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