Wie kann man Künstlern und Kreativen helfen? Kulturbürgermeisterin Jennicke im Interview

„Die Lage ist ernst und in vielen Einzelfällen dramatisch“, sagt Leipzigs Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke. Im Interview spricht sie über eine Verwaltung im Krisenmodus, schnelle Maßnahmen und den langen Weg zurück zum Normalbetrieb im Kulturleben der Stadt. Deutschland fährt immer weiter runter. Wie sieht Ihr Alltag in diesen Tagen aus? Die vergangenen zehn Tage haben wir als Verwaltungsspitze im akuten Krisenmodus gearbeitet. Jeden Tag tarieren wir das Verhältnis zwischen dem Schutz der Menschen und der Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens neu aus. Oberstes Gebot in solch einer Situation ist: Ruhe und kühlen Kopf bewahren. Sich auch im Moment des größten Drucks noch fragen, ob die zu treffende Entscheidung morgen noch richtig ist, ist bei dieser immensen Dynamik nicht immer einfach. Schließlich alle Veranstaltungen abzusagen, Theater zu schließen, den Betrieb an Musik- und Volkshochschule einzustellen, die Bibliotheken und Museen für das Publikum zu sperren – all das war am Ende doch notwendig. Gibt es auch Positives? Es gibt unglaublich Kraft, zu spüren, wie alle konzentriert und verantwortungsbewusst agieren, dabei eigene Belange für das Gemeinwohl hintanstellen. Dafür bin ich meinen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar. Die Einnahmen freier Kulturschaffender sind fast von einem Tag auf den anderen auf Null gestellt. Was kann die Stadt tun, um hier schnell zu helfen? Die Situation ist in der Tat in vielen Einzelfällen dramatisch und wird sich möglicherweise mit anhaltender Dauer sogar verschärfen. Wir als Stadtverwaltung suchen nach geeigneten Maßnahmen für diejenigen, die am stärksten wirtschaftlich zu kämpfen haben, und das sind in erster Linie die Freiberufler und Kleinstunternehmer. Es gibt eine Vielzahl von Ideen. Ich habe darum gebeten, zu prüfen, inwiefern wir die Gewerbesteuervorauszahlungen stunden lassen können. Gemeinsam mit dem Dezernat Wirtschaft erarbeiten wir ein Soforthilfeprogramm, das die Liquiditätsengpässe kleiner Unternehmen, Kreativer und Selbstständiger beheben und existenzielle Notsituationen überbrücken soll. Darüber hinaus haben wir entschieden, keine Projektfördermittel zurückzufordern, wenn künstlerische Projekte Corona-bedingt abgesagt werden mussten. Haben Sie das Gefühl, dass das Probleme bei Bund und Freistaat angekommen ist und dass hier auch schnell reagiert wird? Ja. Kulturstaatsministerin Grütters hat Sofortmaßnahmen angekündigt. Die sächsische Staatsregierung legt einen Sachsenfonds auf. Mit der sächsischen Staatsministerin für Kultur und Tourismus bin ich im Gespräch, ich habe bei ihr einen sächsischen Kulturgipfel angeregt. Insgesamt nehme ich auch hier ein sehr beherztes Vorgehen wahr. Es wird jedoch darauf ankommen, die Ankündigungen zeitnah konkret zu machen. Das aktuelle Milliardenpaket der Bundesregierung ist ein starkes Signal. Wann ist seitens der Stadt mit Beschlüssen zu rechnen? Zwar ist die Gremienarbeit des Stadtrates zunächst ausgesetzt, aber der Oberbürgermeister ist mit uns Bürgermeistern und den Fraktionsvorsitzenden im ständigen Kontakt. Die nächsten Wochen werden wir formal mit Eilentscheidungen des OBM überbrücken. Das ist wirklich eine Ausnahmesituation und eine ungewohnte Herausforderung für unsere Demokratie. Wichtig ist: Die Verwaltung ist handlungs- und entscheidungsfähig. Halten Sie den Totalverlust der Freien Szene für möglich? Wie dramatisch ist die Lage aus Ihrer Sicht? Die Lage ist ernst und in vielen Einzelfällen dramatisch. Noch wird manche soziale Notlage vom familiären Umfeld aufgefangen. Das gilt für den Musiker ebenso wie für die Grafikerin, für die Schauspielerin wie für den Messebauer und Gastronomen. Es braucht solidarische Unterstützung. In der Krise sollten wir uns alle unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein. Künstler leiden genauso wie die Friseure und Einzelhändler, denen die Einnahmen wegbrechen. Die zahlreichen Sofortmaßnahmen von Bund, Land und uns als Stadt werden hier spürbare und unbürokratische Linderung bringen. Die Erwartungen an den Staat sind hoch. Doch Politik und Verwaltung werden nicht alle Folgen der Pandemie auffangen können. Wir müssen alle das Miteinander in den Fokus stellen, und dabei dürfen wir offensiv und kreativ sein. Viele Künstlerinnen und Künstler sind es schon. Es gibt Streaming-Konzerte mit Spendenfunktion, Teilhabe-Angebote im Netz. Ich bin sicher, da fällt uns in den nächsten Wochen noch viel ein. Am Mittwoch haben Sie sich mit Vertretern der Freien Szene getroffen – mit welchen konkreten Ergebnissen? Die Vertreter von IG Live Kommbinat, Kreatives Leipzig und Leipzig plus Kultur haben eindrücklich die Lage geschildert. Das war wichtig, um den Entwurf des Soforthilfeprogramms zu schärfen. Wir wollen, dass es dort greift, wo es gebraucht wird. Gibt es bereits eine Tendenz beim Bachfest, geplant vom 11. bis 21. Juni. Ist noch denkbar, dass es stattfinden kann? Das Bachfest ist das größte Festival der Stadt mit zuletzt 73 000 Besuchern. Allein der Gedanke, es abzusagen, schmerzt sehr. Für heute gilt: Tendenzen nützen niemandem etwas. Es braucht eine Entscheidung. Noch ist es zu früh, diese zu treffen. Ich denke, Mitte April werden wir es wissen. Welche weiteren noch nicht abgesagten größeren Festivals in Leipzig sehen Sie gefährdet? Bis zum Ende der Osterferien gilt ein absolutes Veranstaltungsverbot. Wie es danach weitergeht, ist ungewiss. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass auch spätere Veranstaltungen nicht wie geplant stattfinden werden, da die derzeit laufende Planungsphase empfindlich gestört ist. Für einige Veranstalter ist es mit Blick auf die Kostenreduzierung sinnvoll, sich bereits jetzt für Verschiebungen oder Absagen zu entscheiden, um nicht unnütz Ausgaben zu produzieren. Gibt es Pläne, die ganzen Nachhol-Premieren nach dem Ende der Corona-Pause zeitlich zu entzerren? So sehr wie wir uns alle zu einem Normalbetrieb zurücksehnen – es wird eine Weile dauern, bis er zurück ist. Und vielleicht wird vieles anders sein und bleiben. Alles nachzuholen, wird nicht gehen. Denn wofür machen wir denn Kunst und Kultur? Für das Publikum. Und das kann pro Abend nur einmal weggehen, wie kulturell ausgehungert es nach der Krise auch immer sein wird. Ich erwarte von der Leipziger Veranstalterszene auch nach der Krise ein solidarisches Miteinander. Die Schließung der kulturellen Eigenbetriebe der Stadt führt zu entsprechenden Einnahmeverlusten. Wird die Stadt diese auffüllen können? Es ist unsere Pflicht als Träger. Spätestens nach drei Jahren. Aber ehrlich: Darüber sollten wir sprechen, wenn es soweit ist. Aktuell setze ich auf die Kreativität der Betriebsleitungen und der Beschäftigten. Der Vorstellungs- und Probenbetrieb ist zwar eingestellt, aber das Personal ist einsatzfähig. In der Schneiderei der Opern-Werkstätten wird zum Beispiel Schutzkleidung für medizinisches Personal genäht. Ganz sicher finden wir noch weitere unkomplizierte Einsatzmöglichkeiten. Was halten Sie von der Idee, nach dem Ausfall der Buchmesse in diesem Jahr den Literarischen Herbst finanziell aufzuwerten, ihn zum großen Lesefest zu machen? Die Idee klingt gut und hat Charme. Die Hoffnung auf aufgewertete Budgets möchte ich dämpfen, denn jeder Euro im städtischen Haushalt muss erwirtschaftet werden. Und genau das passiert ja aktuell gerade nicht wie geplant. Damit sich das rasch wieder ändert, sollten wir alle sorgsam mit den neuen Regeln des sozialen und öffentlichen Lebens umgehen, sie strikt einhalten, körperliche Distanz wahren und geistige Nähe und Gemeinschaft zulassen. Auch und gerade mit Kultur. Mehr zum Thema: Warum Lokaljournalismus gerade jetzt so wichtig ist – und nicht alles kostenlos sein kann Virologe Lübbert: Nächste Woche könnten 5000 Leipziger betroffen sein Corona-Liveticker Von Jürgen Kleindienst

Corona-Krise - Hilfe für Künstler und Kreative: Kulturbürgermeisterin Jennicke im Interview