Im Delitzscher Notquartier: Lockdown bringt Circus Alexander in Existenznot

Vivian Freiwald ist unglücklich. Die 24-Jährige Luftartistin sitzt aktuell auf dem harten Corona-Boden fest. Viel lieber würde sie mit ihrem Mann und Zirkusdirektor Gino Lauenburger (32) in der Manege stehen, besser noch im Kronleuchter und am Vertikalseil darüber schweben. Doch stattdessen stecken sie und weitere zehn Zirkusangehörige seit März fest. Erst auf dem Wurzener Festplatz, dann kurz in Dessau und seit Mitte September auf einem Areal an der Delitzscher Fabrikstraße. Das Grundstück mit Halle nutzt der Circus Alexander seit drei Jahren als Winterquartier zwischen Januar und Februar und mietet es nur für diese begrenzte Zeit an. Dazwischen tritt der Zirkus an 35 Orten pro Jahr auf. Ein fester Stützpunkt ist nicht notwendig, die Schausteller sind immer unterwegs. Freiwald: „Wir müssen uns von Tieren trennen“: „Wir sind froh, dass uns der Eigentümer früher erlaubt hat herzukommen“, sagt Freiwald. Nach einer Irrfahrt durch Nordsachsen und Sachsen-Anhalt, zwischen nicht zugelassenen Hygienekonzepten und Auftrittsverboten, stünde jetzt die Hauptauftrittszeit für den Zirkus an. Vom 22. Dezember bis 10. Januar würde der „Weihnachtszirkus“ in Halle und mit ihm bis zu zwei Vorstellungen pro Tag stattfinden, erklärt die 24-Jährige. Es wäre für den kleinen Wanderzirkus das dritte Jahr in Folge in der Stadt an der Saale gewesen. Dass diese Termine wegfallen sei besonders traurig. „Für uns fällt Weihnachten komplett aus“, fasst Freiwald die Folgen des neuerlichen Lockdowns zusammen. Nur eines läuft für die Schaustellerfamilie weiter: die Kosten. Neben den zusätzlichen Monatsmieten des Winterquartiers muss das Futter für die 25 Tiere, darunter Kamele, Lamas, Pferde und Ponys, bezahlt werden. Stroh, Heu und Kraftfutter. Pro Woche kommen so etwa 1000 Euro zusammen, rechnet Freiwald vor. Oft ist Zirkusdirektor Lauenburger viele Stunden des Tages unterwegs, um Heu abzuholen. Dazu fallen Strom- und Wasserkosten sowie Steuern an. Die Konsequenz: „Wir müssen uns von Tieren trennen“, sagt die Luftartistin. Circus Alexander ist dankbar für alle bisherigen Hilfen: Der Zirkus habe bereits versucht, Material zu verkaufen, doch da es anderen Betrieben der Branche ähnlich ergehe, sei die Situation auf dem Markt angespannt. „Materialien kann man ersetzen“, sagt die Artistin, „ein Tier nicht.“ Das aufgebaute Vertrauen und die gegenseitig entwickelte Zuneigung können nicht aufgewogen werden, erklärt Freiwald, die zur siebenten Generation der aus Ludwigslust (Mecklenburg-Vorpommern) stammenden Zirkusdynastie Frankello gehört. „Nicht gut“, sagt Alois Spindler auf die Frage, wie sich die aktuelle Situation darstelle. Er ist zweiter Vorsitzender des Verbands deutscher Circusunternehmen und Direktor des Circus Voyage, der seit beinah einem Jahr in Pohritzsch (Gemeinde Wiedemar) festsitzt. Unterschiede zwischen großen und kleinen Zirkussen: Grundsätzlich gibt es aktuelle zwei Kategorien, sagt Spindler. Kleine Familienunternehmen wie etwa der Circus Alexander müssen sich aktuell über Spenden finanzieren, da sie bei der Vergabe von Überbrückungshilfen bisher leer ausgegangen seien. Und nach Spenden für ihre Tiere fragen, das mussten in den zurückliegenden Monaten sogar Zoos, sagt Spindler, obwohl diese staatliche Hilfen bekommen. Die zweite Kategorie seien größere Betriebe wie sein Circus Voyage. Diese bekommen zwar Betriebshilfen, aber meist zu spät, sagt Spindler. Zirkusse wurden bisher nie kulturell unterstützt, erklärt der Direktor, bis zur Pandemie. Jetzt habe auch die Politik bemerkt, dass an der Branche Kultur und Arbeitsplätze hängen. „Wir sind stolz bisher nie Hilfen gebraucht zu haben“, sagt Spindler, doch er sei auch enttäuscht, dass Zirkusse nicht als Kultur gesehen werden. Zirkusse müssen sich etwas überlegen, um durch die Zeit zu kommen: Mit seinem eigenen Zirkusunternehmen hat Spindler in den vergangenen Monaten einen „Circus-Hof“ in Pohritzsch aufgezogen. Für mehrere Tage pro Woche waren Besucher eingeladen, um Tiere zu sehen, Dressurproben und Clown-Vorführungen zu erleben, zudem gab es Hüpfburgen zum Spielen. Auch ein Bistro hatte geöffnet. So konnten wir zumindest die Futterkosten decken, sagt Spindler. Sein Zirkus könne zwar alle Tiere weiterhin problemlos versorgen, nur in anderen Bereichen herrsche dann Stillstand. Finanziell sei es durch einen aufgenommenen KfW-Kredit sogar eher ein Rückstand, mit dem er in zukünftige Tourneen starte. Dass diese überhaupt so schnell wieder möglich sein werden, davon geht Spindler nicht aus. Sobald es erlaubt ist, wolle er zumindest den Circus-Hof in Pohritzsch öffnen, gibt sich Spindler kämpferisch. Viel lieber würde er aber wieder unterwegs sein und sein Geld selbst verdienen. Dankbar sind die Schausteller den Menschen in der Region. Den Bauern, die Heu verschenkten und jetzt noch zu einem günstigeren Preis verkaufen, dem Delitzscher Rewe-Markt, der Lebensmittel vorbeibringt, die nicht mehr verkauft werden können und natürlich den vielen Spendern. „Die Hilfsbereitschaft war riesengroß“, sagt die Familie. Doch leider sei sie weiterhin darauf angewiesen. Hoffnung, Investitionen und Verluste: Denn obwohl sie letztlich ausgefallen sind, stecken in den geplanten Veranstaltungen wie dem Weihnachtszirkus in Halle bereits Investitionen. Es wurden unter anderem Plakate, Flyer und Postsendungen gedruckt, Desinfektionsmittel bestellt, dazu habe der Zirkus Plexigläser anfertigen lassen, um den Eingangsbereich im Zelt nach den Hygienevorgaben zu gestalten und Zuschauer auf den Rängen voneinander trennen zu können. Immer mit der Hoffnung, es heißt bald wieder „Manege frei“. 700 Menschen passen im Normfall in das Zelt. Für 300 Personen hatte der Zirkus ein Konzept entwickelt. Doch dieses wurde wie beispielsweise in Dessau nicht zugelassen. Weniger Personen in die Vorstellungen zu lassen, rechne sich dann kaum. Wer sich näher mit dem Zirkus befasst, wird auf eine vermeintlich noch offene Rechnung aus dem Vorjahr stoßen, die der Familie neben den aktuellen Herausforderungen noch immer nachhängt: Die Bernburger Theater- und Veranstaltungs GmbH ist aktuell nicht gut auf den Betrieb zu sprechen. Diese vermietet das dortige Kulturhaus für Veranstaltungen aller Art. So wurde im November 2019 auch das „Dinoland“ durchführt. Für diese Veranstaltung trat laut der GmbH Vivian Freiwald als Ansprechpartnerin auf. Nach den zwei Veranstaltungstagen verließen die Dinoland-Organisatoren das Kulturhaus der Bernburger Theater- und Veranstaltungs GmbH zufolge, ohne die offene Mietrechnung zu begleichen – ein niedriger vierstelliger Betrag blieb offen. Eine vermeintlich offene Rechnung in Bernburg: Darauf angesprochen erklärt Vivian Freiwald, dass der Circus Alexander nichts damit zu tun hat. Ein Cousin ihres Mannes habe die dortige Veranstaltung durchgeführt. Der Zirkus sei zu diesem Zeitpunkt bereits in Weißenfels gewesen und baute dort für ein Gastspiel auf. Laut Freiwald habe sie bis heute keinen Vertag und keine Rechnung erhalten, auf denen sie oder der Zirkus als Vertragspartner benannt wird und der den Vorwurf bekräftigt. 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Sie leben aktuell von Hartz IV, Lebensmittel- und Futterspenden für die Tiere, da Zirkusse bisher durch alle staatlichen Hilfsprogramme fallen. Diese habe der Circus Alexander zwar über seine Steuerberaterin beantragt, erhalten habe der Familienbetrieb bisher aber nichts. „Jetzt ist unsere Hauptauftrittszeit“, sagt Freiwald. In diesen Wochen schaffe der Zirkus im Normalfall die Grundlage für das kommende Jahr. Sie gönne jeder Unterhaltungsbranche, jedem Künstler, dass sie schnellstmöglich wieder auftreten können, sagt Vivian Freiwald. Sie selbst wolle nichts dazuverdienen, sondern nur, dass ihre Familie, die Artisten und die Tiere überleben, sagt die 24-Jährige. Spendenkonto, Vivian Freiwald, Postbank, IBAN: DE 63 1001 0010 0693 1161 19. Von Mathias Schönknecht