Musik statt Virus-Frust: Wie Nordsachsen die Zeit genutzt haben

Mit Musik lässt sich die Corona-Krise nicht nur besser überstehen – mancher konnte die zusätzliche freie Zeit sogar nutzen, um selbst ein Instrument zu erlernen oder die bisherigen musikalischen Fertigkeiten zu verbessern. Wir haben drei Nordsachsen getroffen, die der Krise so auch etwas Positives abgewinnen können. Und das trifft nicht nur für die Musik zu – so spielt der Löbnitzer Martin Ermler nun nicht nur viel besser Gitarre, sondern hat auch Kochen und Russisch gelernt. Raus aus der Komfortzone: Die auffälligste Veränderung dürfte wohl das Grün sein. Während seiner coronabedingten Auszeit vom Job hat Martin Ermler Dinge für sich (wieder-)entdeckt, die zuvor meist zu kurz kamen. „Bisher hatte ich nur den ‚Alibi-Kaktus‘ in meiner Wohnung“, sagt der Löbnitzer. In den vergangenen Wochen ist die Sammlung auf zehn Pflanzen angewachsen. Und beinahe alle haben den Versuch überlebt, sagt Ermler und lacht. Der 30-Jährige ist Soldat und in der Feldwebel-Boldt-Kaserne in Delitzsch stationiert. Mit den Vorkehrungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie musste auch die Unteroffizierschule des Heeres ihren regulären Betrieb einschränken. Ein Großteil des Stammpersonals blieb seit Ende März zu Hause, hielt sich jedoch für mögliche Einsätze wie Hilfeleistungen bereit. Darunter Martin Ermler. Also ist er jeden Morgen weiterhin um 7 Uhr aufgestanden. Sein Engagement aus der Vor-Corona-Zeit mündete in Tatendrang. Denn neben der Beschäftigung bei der Bundeswehr ist Ermler unter anderem als Einzelunternehmer in der Personalvermittlung und politisch in der FDP aktiv. Und so entdeckte er seinen grünen Daumen, lernte Kochen abseits von „Maggie-Tüten“, wie er sagt, und trieb wieder vermehrt Sport. Da seine Freundin aus der Ukraine stammt und von dort seit einigen Wochen nicht ausreisen darf, hat Ermler beschlossen, ihr sprachlich näherzukommen. Mithilfe einer App intensivierte er seine Kenntnisse – 30 Minuten, jeden Tag. Als er das bisher letzte Mal zu Besuch bei der Familie seiner Freundin war, habe er kein Gespräch ohne „Dolmetscher“ führen oder nur mit Standardphrasen antworten können, erzählt er. Das sollte sich ändern. Nach der sonst täglichen Arbeit sei auch das Gitarrespielen zu kurz gekommen. Und wenn, dann seien es meist die gleichen Lieder gewesen. Also fragte er über seinen Instagram-Account, was er denn spielen solle. „So bin ich aus meiner Komfortzone rausgekommen“, sagt Ermler. Das Ziel: Mindestens 30 Sekunden der genannten Lieder spielen zu können – es geht von Black Sabbath bis Metallica. In der Corona-Zeit wird ihm zu oft über das Negative berichtet, sagt er. Während seines Auslandseinsatzes in Mali sei ihm beispielsweise wirklich bewusst geworden, wie privilegiert wir als Deutsche sind – und daran habe sich auch in den zurückliegenden Wochen nichts geändert! Dank Corona zu „The Voice of Germany“? „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ – Musik verbindet, nicht nur in der Zeit der Kontaktbeschränkungen. Ulrike Lochert kann im wahrsten Sinne des Wortes ein Lied davon singen, was das bedeutet. „Ulrike ist in den vergangenen Wochen zur Sängerin geworden“, sagt ihre Gesangslehrerin Katja Scholz. Während das öffentliche Leben stillstand, probten die Frauen zu zweit miteinander doppelt so oft wie sonst – weil das Arbeitspensum für die Pädagogin und die Bürokauffrau deutlich geringer war, ergab sich das ganz einfach und war bisweilen die einzige Art des Miteinanders außerhalb des eigenen Hausstandes. Die Dahlener Schülerin und ihre Lehrerin aus Schönnewitz kennen sich seit fast zehn Jahren, der Gesangsunterricht führte beide noch enger zusammen, seit einem Jahr laufen die Proben, in den vergangenen Wochen intensiver denn je. Mehrere Anläufe brauchte es für Ulrike Lochert, ihrer Passion, dem Singen, regelmäßig nachzugehen, neben dem Erlernen des Gitarrenspiels auch die eigene Stimme zu trainieren. Das reicht zurück bis in die Zeit vor ihrem Umzug, als sie 2016 von Halle in die Region kam. Kleine Auftritte im privaten Bereich oder der eher zufällige Besuch in der Dahlener Kirche, wo sie der Akustik wegen auch mal ganz alleine probt – das waren bis vor Kurzem die einzigen Gelegenheiten, bei denen Außenstehende ihre Stimme hörten. Dann der erste öffentliche Auftritt – nicht irgendeiner, sondern auch der erste nach den Lockerungen: ein Solo zum Gottesdienst in der Kirche Borna. „Die Menschen waren berührt und begeistert – und ich hatte wieder einmal dafür gesorgt, mich als Lehrerin selbst überflüssig zu machen“, sagt Katja Scholz. Inzwischen ist Ehemann Sven bei jedem Auftritt dabei und vielleicht wird das Publikum auch schon bald größer: Ulrike Lochert liebäugelt nun sogar mit einer Bewerbung bei der Casting-Show „The Voice auf Germany“. Trompete spielen mit dem Opa: Dank Corona hat der Posaunenchor der Kirchgemeinde Oschatz ein neues Mitglied: Felix Zehme (15) spielt nun ein Instrument, genau wie sein Vater Joachim und Großvater Berthold. Letzterer musiziert seit 72 Jahren und freut sich, dass nun auch das letzte seiner Enkelkinder ein Instrument erlernt hat. Der Opa war es, der dem Jugendlichen in den vergangenen Wochen zur Seite stand, ihn anleitete, Liedermappe und sogar eine Trompete zum Üben bereitstellte. Dienstags und donnerstags nutzten sie die schulfreie Zeit, das ein oder andere Mal probte Felix auch für sich allein. Mutter Sandra Zehme, versiert auf der Violine, freut sich, dass innerhalb der Familie so viel gemeinsam musiziert wird. „Für sich allein macht das keinen Spaß. Und auch die Fortschritte werden so gleich viel schneller deutlich, wenn jemand mithört.“ Berthold Zehme sieht die Corona-Situation seit Mitte März als Anstoß für sein Enkelkind. „Er hatte sich schon immer mit der Idee getragen, nahm auch Unterricht an der Musikschule und nutzte ein Nachwuchsprogramm der Sächsischen Posaunenmission und des Landeskirchenamtes. Aber Corona hat nun den Ausschlag gegeben, dass es schon zum Mitspielen im Chor reicht.“ Ganz ohne gemeinsames Musizieren ging es für das Ensemble, das dieses Jahr sein 75-jähriges Bestehen feiert, dann doch nicht. „Wir spielten in kleiner Gruppe, nicht in der Kirche, aber davor“, berichtet Berthold Zehme. Während der strengen Ausgangsbeschränkungen gaben Zehmes spontan Konzerte vom Balkon. Nachbar Jörg Petermann schloss sich mit seinem Kontrabass an, Applaus und begeisterte Anrufe von den Anwohnern und gar aus der nahegelegenen Gartensparte spornten sie an, es jeden Sonntagabend fortzusetzen. Felix nahm all das mit und bereichert nun die Talente seiner Verwandten. Dass die zurückliegenden Monate verlorene Zeit gewesen sein sollen, wird er in der Rückschau mit Sicherheit nicht bestätigen. Von mhs und cku