Deutschlands erste Konsumgenossenschaft: Als Eilenburg 1850 Geschichte schrieb

Vor 170 Jahren wurde in Eilenburg Geschichte geschrieben. Denn am 12. Juli 1850 gründete sich in der Muldestadt mit der Lebensmittelassociation zu Eilenburg die erste Konsumgenossenschaft Deutschlands überhaupt. Die Auflösung erfolgte allerdings bereits drei Jahre später - und dabei war auch Branntwein im Spiel. Eilenburg – das kleine Manchester: Eilenburg im Jahr 1850: Die Stadt blickt auf eine rasante Entwicklung zurück. Innerhalb eines halben Jahrhunderts war die Bevölkerungszahl von 2000 auf 10 000 explodiert. „Wir hatten damals“, so ordnet es Eilenburgs Museumsleiter Andreas Flegel ein, „die erste Phase der Industrialisierung.“ Eilenburg sei damals so etwas wie ein kleines deutsches Manchester gewesen. Warum - das hat auch mit Napoleon zu tun. Denn der hatte kurz vor der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 in Eilenburg Quartier bezogen und vor dem Dorf Kültzschau (heute Eilenburg Ost) sogar die letzte Heerschau seiner verbündeten sächsischen Truppen abgenommen. Nach seiner Niederlage gehörte die Ackerbürgerstadt Eilenburg 1815 zu den Landesteilen Sachsens, die an Preußen fielen. Durch den Anschluss an das damals fortschrittlichste deutsche Land wurde allerdings auch der Übergang vom Landstädtchen zur Industriestadt maßgeblich beschleunigt. Das preußische Eilenburg lockte sächsische Unternehmen: Vor allem sächsische Textilunternehmen lockte das preußische Eilenburg mit dem zollfreien Zugang zum damals riesigen preußischen Markt. Zudem sprachen die Nähe zur Handelsmetropole Leipzig und die Energiequelle Mühlgraben für Eilenburg. Doch mit dem rasanten Bevölkerungswachstum nahm auch das soziale Ungleichgewicht zu. Spätestens mit den Lebensmittelteuerungen der Jahre 1847 und 1848 gerieten viele Eilenburger Textilarbeiter trotz 50- bis 60-stündiger Arbeitswochen in existenzielle Nöte. Gemälde von August Fritzsche ist in Hamburg ausgestellt: August Fritzsche, der 1816 als Sohn eines Gold- und Silberdrahtziehers in Eilenburg geboren wurde, wollte das nicht einfach so hinnehmen. Als Buchbinder hatte er Zugang zu der Eilenburger Presse, in der auch die ersten Genossenschaftsgründungen in den Vereinigen Staaten von Amerika Erwähnung fanden. Er ließ sich davon inspirieren und wurde später der Geschäftsführende in der Genossenschaft. Ein Gemälde, das August Fritzsche im Alter von etwa 35 Jahren zeigt, hängt deshalb bis heute im Genossenschaftsmuseum Hamburg. Im Konsum wurde so mancher Silbergroschen gespart: Andreas Flegel: „In Eilenburg wurde das genossenschaftliche Prinzip so praktiziert, dass von den kleinen Mitgliedsbeiträgen Waren im Großhandel gekauft wurden. Diese Waren konnten dann, unter Ausschaltung des Zwischenhandels, günstiger abgegeben werden als es den anderen Händlern möglich war.“ Damit sei das Eilenburger Modell auf jeden Fall erfolgreicher gewesen als jenes einer etwa zeitgleich entstehenden Chemnitzer Genossenschaft. „Der Konsum in Eilenburg wurde jedenfalls schnell populär, wuchs rasant, weil sich damit eben so mancher Silbergroschen sparen ließ.“ Städtebaulich erinnere heute an die Eilenburger Pioniere, denen der Verlag Büchergilde Gutenberg mit der 1934 erfolgten Herausgabe eines übrigens recht flüssig geschriebenen Romans ein Denkmal setzte, nicht wirklich etwas. Die Gesichte mit dem Schild und der Leiter: Der Verkauf in Eilenburg selbst erfolgte damals ausschließlich in einem Ladengeschäft im Haus des Buchbinders, das an der Ecke der heute nach ihm benannten August-Fritzsche-Straße / Steinstraße stand. Dass dieses Gebäude heute nicht mehr steht, bedauert Andreas Flegel sehr. „Dabei hatte ich als Geschichtsinteressierter in den 1980er-Jahren mit Manfred Vieweg, dem Kulturchef beim Rat des Kreises, einen Verbündeten gefunden. Wir sahen den Umgang der DDR mit den Geschichtszeugnissen kritisch. Auch das Fritzsche-Haus, in dem 1950 lediglich mal eine Gedenktafel angebracht worden war, zerfiel immer mehr. Ein Denkmalschild am Haus, so die damalige Überlegung, könnte vielleicht zumindest vor dem Abrissbagger schützen. Doch auch diese Schilder waren damals nicht einfach so zu bekommen. Doch als Manfred Vieweg dann irgendwann Mitte der 1980er-Jahre mal welche auftreiben konnte, informierte er mich sofort. Wir haben schnell gehandelt und uns in der Nachbarschaft eine Bockleiter ausgeborgt. Die hat Manfred Vieweg dann gehalten, während ich das Schild angenagelt habe.“ Geholfen hat es letztendlich leider nichts. 1987 wurde das Gebäude abgerissen. Und heute steht an dieser Stelle übrigens ein Geschäftshaus mit Friseur und Arztpraxen. Der Branntwein musste herhalten: Eilenburg darf gleichwohl zu Recht den Beinamen „Werkstatt des Genossenschaftswesen“ tragen. Von hier gingen, wie kurz darauf auch von Delitzsch und Bad Düben, schließlich wesentliche Impulse der genossenschaftlichen Entwicklung für den gesamtdeutschen Raum aus. Als Vorreiter sahen sich die Genossenschaftler aber auch von Anfang an Anfeindungen ausgesetzt. „Händler, denen da plötzlich eine ungewollte ernsthafte Konkurrenz erwuchs, versuchten die Organisation mit allen Mitteln zu zerschlagen.“ Und sie seien, so hat es der Museumsleiter recherchiert, dabei auch nicht vor Intrigen, Prozessen oder Eingaben an die preußische Regierung zurückgeschreckt. Schließlich wäre ihnen der Branntwein, der damals als Lebenselixier für die schwer schuftenden Textilarbeiter galt, zu Hilfe gekommen, erzählt Andreas Flegel. Beim Branntwein hätte es damals besondere Vertriebskonzessionen gegeben, die die Genossenschaft nicht bekam. Die Abgabe von Branntwein war damit nur an Mitglieder erlaubt. Als sie diesen aber auch an Nicht-Genossenschafts-Mitglieder verkaufte, kam sie in große Schwierigkeiten. Doch das hätte sich vielleicht regeln lassen, wenn nicht parallel dazu die Gegner der Genossenschaft erreicht hätten, dass immer mehr ihnen genehme Leute in den Genossenschaftsvorstand gewählt wurden. Und diese beschlossen dann am 30. Juli 1853 die Selbstauflösung. Eilenburg findet viele Nachahmer: Der erste Versuch einer deutschen Konsumgenossenschaft galt damit als gescheitert. Doch in den 1870er- und 1880er-Jahren entstandenen in Deutschland viele Nachahmer, die sich die Eilenburger Idee zum Vorbild nahmen. In Eilenburg selbst hat es aber bis 1898 gedauert, bis es wieder eine Genossenschaft gab. Im Dritten Reich wurden die Konsumgenossenschaften, die die ersten großen Massenorganisationen in Deutschland waren, zerschlagen. In der DDR wurde der Genossenschaftsgedanke dann in anderer Form nicht nur im Konsum-, sondern auch in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und in Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) wieder belebt. Noch im Jahr 2000 wurde in Eilenburg eine 150-Jahr-Feier anlässlich der Gründung der ersten deutschen Konsumgenossenschaft gefeiert. Es gab mit Unterstützung der Konsumgenossenschaft Sachsen-Nord eine Sonderausstellung im Museum, eine Straße wurde in Konsumgasse umbenannt. 2010 musste die Konsumgenossenschaft dennoch Insolvenz anmelden. In Eilenburg selbst sieht sich heute nah & frisch, das seit November 2018 von der Clever Einkaufen GmbH betrieben wird, und deren Leitung von Eilenburg aus 17 Filialen in Sachsen steuert, als Nachfolger des Konsums, der auch heute noch in der Fläche kleinere Dorfläden betreibt. Von Ilka Fischer