Zurück zu den Wurzeln: Junger Weltenbummler macht Dampf

Matthias Wenzel glaubte seinen Augen nicht. Als er im Juli 2011 die Fernsehbilder vom Anschlag in Oslo sah, erkannte er das Viertel sofort wieder. Terrorist Anders Breivik ließ seinen Sprengsatz ausgerechnet in der Nähe jenes Hauses hoch gehen, indem der Schönbacher nur drei Jahre zuvor das komplette Treppengeländer eingebaut hatte. Ob dieses angesichts der Wucht der Detonation beschädigt wurde – Wenzel weiß es nicht. Er will es auch gar nicht wissen. Zu viel Herzblut steckt in dem Holz. Die Vorstellung, all das könnte umsonst gewesen sein – er wäre untröstlich. Der heute 36-Jährige spricht ganz gut Norwegisch. Als junger Mann baute er im hohen Norden luxuriöse Möbel in Yachten ein. Bis die Wirtschaftskrise kam und die Reichen ihre Aufträge stornierten. Wenzel ging in die norwegische Hauptstadt und heuerte bei einer Tischlerei an. Gesiezt wird in Norwegen nur der König: In den knapp zwei Jahren hatte er die norwegische Lebensart lieben gelernt: „Die Leute sprechen sich dort ausnahmslos mit Vornamen an. Gesiezt wird nur der König.“ Die Firmen würden wie eine Familie geführt, gearbeitet werde nicht gegen- sondern miteinander. Ein Modell, das Unternehmer Wenzel nun auch in seinem Großbothener Betrieb praktiziert. Bei ihm muss sich niemand verbiegen – das einzige, was bei ihm gebogen wird, ist das Holz. 2016 kaufte der Rückkehrer das traditionsreiche Dampfsägewerk. In Spitzenzeiten trieb dort eine 250 PS starke Dampfmaschine sechs mächtige Gattersägen an. An die Dreißigerjahre, als in der Fabrik bis zu 70 Menschen in Lohn und Brot standen, erinnern noch die alte Transmission sowie die ebenfalls denkmalreife Gattersäge. Firmengründer Franz Spreer erwarb sie 1925 direkt auf der Leipziger Messe. In dem Stahlkoloss werden noch heute ganze Baumstämme zu Brettern gesägt. Probieren statt studieren: Die Dampfmaschine ist längst verschwunden – Wenzel aber macht umso mehr Dampf. Und das nach dem Kochtopfprinzip. Was so leicht klingt, ist in Wahrheit eine Kunst für sich. Nirgendwo werde sie gelehrt. Und so heißt es: Probieren statt studieren. Als Lehrling hatte er angefangen, Holz in der Kartoffeldämpfe von Opa Herbert zu biegen. „Mit mäßigem Erfolg“, winkt er ab. Er versuchte es weiter. Auf Biegen und Brechen. Er entwickelte ganze Apparaturen. Und siehe da: Es funktionierte. Wie genau es funktioniert – das bleibe ein Geheimnis. Inzwischen gilt Wenzel als einer der ganz wenigen, die Buche und Ahorn über kochendem Wasser – und somit „von Hand“ biegen können. Er braucht das in großen Stückzahlen gebogene massive Holz für die geschwungenen Kopf- und Fußteile seiner Betten. Die Bugholzbetten, die an die Jahrhundertwende erinnern, sind das Markenzeichen des Dampfsägewerkes. Die Produkte gehen in alle Welt. Außerdem fungiert Großbothen als Zulieferer. Fabrik aus dem Dornröschenschlaf geholt: Das 1909 gegründete Werk wurde am 1. Juli 1961 in den VEB „Kistenbau Leipzig“ eingegliedert. Nun baute man vorwiegend Kisten mit Sondermaßen für den In- und Export. 1991 gelangte das Werk wieder in Familienbesitz und wurde als „Kistenbau Großbothen – Alfred Spreer & Sohn GmbH“ weitergeführt. Zuletzt ruhte die Produktion. Bis Matthias Wenzel die Fabrik aus dem Dornröschenschlaf erweckte – passenderweise mit Betten. Der Handwerker, der bei der Buchheimer Firma Pfaff gelernt hatte, schwört auf Vollholz. Diese Vorliebe stammt aus seiner Gesellenzeit, die ihn nach Österreich verschlug. In Diensten eines Innsbrucker Tischlers stattete er Hotels im ganzen Alpenraum mit Möbeln aus: „Die konnten gar nicht aufwändig genug sein“, erinnert er sich. Er wohnte zwar am Bergisel, würdigte die Skispringer jedoch keines Blickes: „Deren Bretter bestehen nicht mehr aus Holz, sondern aus Fiberglas.“ Gesellenjahre in halb Europa: Für die Innsbrucker Gießerei Grassmayr zauberte der junge Sachse unzählige Glockenstühle in uralte Kirchen: Ob in Österreich, Rumänien, Italien, Serbien, Ungarn, Kroatien, der Schweiz und im Kosovo – überall baute er auch Treppen und Böden. Wo auch immer er war, lernte er die Menschen, ihre Sitten und Gebräuche kennen. „In Großweikersdorf bei Wien etwa halfen mir Rentner freiwillig dabei, jeden Tag alles Holz, alles Werkzeug hoch und runter zu schleppen.“ Auf Teamarbeit setzt Wenzel auch in Großbothen. Für seine Kolleginnen Annett Neuendorf (37) und Sinah Schirra (30) sowie für sich und seine Frau möchte er die ehemaligen Büros im Haupthaus des Dampfsägewerkes zu Wohnungen ausbauen. Überhaupt sei es ihm wichtiger, zunächst das Innere der Fabrik vorzurichten. „Wir wollen uns bei der täglichen Arbeit wohlfühlen.“ Er wisse, dass er damit nicht gerade dem Zeitgeist folge. Aber außen hui, innen pfui – das entspreche nicht seinem Naturell. Die Produktion hat derzeit Vorrang: Ob er die Fabrik außen nicht putzen will? „Doch, natürlich, aber alles zu seiner Zeit.“ Er habe die Fabrik nicht deshalb von Ferdinand Spreer, dem Enkel des Gründers, überschrieben bekommen, um mit dem geschichtsträchtigen Anwesen zu protzen: „Ich will die alte Tradition fortsetzen und weiter mit Holz arbeiten. Die Produktion hat derzeit Vorrang.“ Übrigens, auch die gute Seele, Uwe Groß, inzwischen über 60, gehört zum Team. Er hatte schon für die Spreers gearbeitet. Die Großbothener freuen sich, dass es in der Fabrik weiter geht. Die einen waren dort zu DDR-Zeiten beschäftigt, andere bezogen hier ihre Dachlatten. Sie wünschen dem jungen Mann viel Erfolg, sagen toi, toi, toi und klopfen dreimal auf ...? Klar: Holz. Der Weltenbummler war damals auf Urlaub in Schönbach. Genau in jenen Tagen, als Oma Elisabeth starb. Weil Opa Herbert im Rollstuhl saß und Hilfe brauchte, spürte Wenzel, dass es Zeit war, in der Heimat zu bleiben. Fünf Bier für die Männer vom Sägewerk? Er begann einen Meisterkurs in Borsdorf und schloss 2010 ab. Er machte sich selbstständig und gründete eine eigene Tischlerei. Onkel Ronald Wenzel, der in Göttwitz einen Vierseitenhof besitzt, bot ihm an, ein leer stehendes Seitengebäude zur Werkstatt ausbauen zu dürfen. Gesagt, getan. Zunächst produzierte der Meister dort Küchen, Ess- und Wohnzimmer sowie Tische und Stühle, ehe er die Großbothener Dampfsägemühle kaufte und sich auch dort konsequent der Spanplatte verweigert. Wie unter den Altvorderen soll die Fabrik auch künftig klimaneutral arbeiten: „Wir nutzen schon jetzt regionale Hölzer. Eine Holzheizung ist geplant. Auf dem Dach ist eine Solaranlage in Betrieb. Schafe fungieren als Rasenmäääher.“ Bleibt nur die Frage, ob die Mitarbeiter noch über alle Finger verfügen. Wenzel lacht: „Aber klar. Ich weiß schon, worauf Sie hinaus wollen: Fünf Bier für die Männer vom Sägewerk! Von wegen. Bei uns gibt’s erstens auch Frauen und zweitens keinen Alkohol.“ Von Haig Latchinian