Corona-Risikogebiet oder nicht? Irritationen um den Grenzfall Erzgebirge

Die Corona-Pandemie ist in Deutschland auch ein Ringen mit Zahlen. Der wichtigste Wert dabei aktuell: Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz. Wird der Grenzwert 50 überschritten, läuten bei Behörden die Alarmglocken. Denn eine Kontaktnachverfolgung ist nun praktisch kaum mehr möglich und die Pandemie gerät so regional zunehmend außer Kontrolle. Insofern gibt es ein großes Interesse an den täglich von verschiedenen Stellen veröffentlichten Inzidenz-Werten. Weil die Übermittlung vom Gesundheitsamt zu den überregionalen Behörden aber Zeit braucht, kommt es je nach Quelle zu leicht abweichenden Werten. Erhebliche Unterschiede in den Angaben von Sächsischem Sozialministerium (SMS) und Landkreis Erzgebirge ließen am Montag allerdings besonders aufhorchen. Während Landrat Frank Vogel (CDU) am Vormittag auf einer extra einberufenden Pressekonferenz von einer deutlichen Überschreitung des Grenzwertes in der Region, von einer Inzidenz von 67 sprach und Gegenmaßnahmen ankündigte, veröffentlichte das Sozialministerium von Petra Köpping (SPD) Stunden später für den selben Kreis mit 31,9 eine weitaus geringere Inzidenz. Auch von einer Corona-Grenzüberschreitung im Erzgebirge war in den Angaben des Ministeriums keine Rede. Nicht zuletzt war der Landkreis an der tschechischen Grenze am Montag auch nicht Teil der von der Gesundheitsbehörde veröffentlichten Liste innerdeutscher Gebiete mit hohem Infektionsrisiko. „Zahlen nicht vollständig gemeldet“: Auf LVZ-Nachfrage im Ministerium gab es folgende Begründung: „Die Zahlen konnten laut Erzgebirgskreis nicht vollständig über die offizielle Software via Landesmeldestelle ans RKI gegeben werden und damit an die Landesuntersuchungsanstalt (LUA). Insofern sind nicht alle Zahlen in unserer amtlichen Statistik erfasst worden – der Landkreis führt natürlich eine eigene Liste“, hieß es am Dienstag aus Dresden. Man gehe aber davon aus, bei nächster Gelegenheit die kompletten Zahlen vom Landkreis zu erhalten und dann auch den Inzidenz-Wert anzupassen. Das wäre als Erklärung durchaus nachvollziehbar, ist bei genauem Hinsehen allerdings nicht die ganze Wahrheit. Denn das Sozialministerium veröffentlicht täglich auf der eigenen Webseite auch die Zahl der registrierten Neuinfektionen für jeden einzelnen Landkreis – also auch das, was bei ihnen angekommen ist. In den sieben Tagen bis zur Warnung aus dem Erzgebirge (6.10. bis 12.10) kamen demnach 194 Fälle zusammen. Gerechnet auf etwa 334.000 Einwohner im Landkreis ist das eine Inzidenz von 58 und wäre natürlich der erste sächsische Risikogebietsfall. Risikobewertung nicht tagesaktuell: Warum man in der Behörde von Sozialministerin Köpping trotz dieses offensichtlichen Wissens über das aktuelle Geschehen eine deutlich geringere Inzidenz veröffentlicht? Dazu gab es vorerst keine Erklärung. Nachdem eine frühere Version dieses Textes am Dienstag online auf LVZ.de erschienen waren, meldete sich die Behörde dann doch noch einmal: Das Ministerium berechne die Inzidenz generell OHNE den aktuellen Tag dabei zu berücksichtigen. Die zu Wochenbeginn im Erzgebirge registrierten hohen Fallzahlen gingen entsprechend nicht etwa am Montag, sondern erst einen Tag später in die Risikobewertung ein. Und tatsächlich gab das Ministerium dann am Dienstagabend – eineinhalb Tage nachdem der Landrat entsprechendes verlauten ließ – bekannt: Im Erzgebirge sei der Inzidenz-Grenzwert mit 58 überschritten worden. Parallel dazu gab es allerdings auch weitere 108 Neuinfektionen in der Region, die bei tagesaktueller Berichterstattung eine Corona-Inzidenz von fast 80 bedeuten. Das Erzgebirge gehört somit seit Dienstag zu den am schwersten vom Virus betroffenen Gebieten Deutschlands. Sachsens Sozialministerium wird dies dann allerdings erst am Mittwochnachmittag vermelden. Von Matthias Puppe