Deutschland, ein Sehnsuchtsort

Sicher, es gibt das Gefühl verpasster Lebenschancen. Es hat auch viele Enttäuschungen gegeben, Verletzungen und gebrochene Biografien. Und Gefühlen kann man nicht mit Rationalität oder mit Naturwissenschaften beikommen. Sie sind einfach so da und bewirken Stimmungsschwankungen. Aber egal, in welche Richtung unser Stimmungsbarometer gerade ausschlägt, eine Tatsache sollten wir uns immer mal wieder vor Augen führen: Wir leben seit 30 Jahren in Frieden und Freiheit! Natürlich hat es Frieden für uns nicht erst mit dem 3. Oktober 1990 gegeben, sondern schon seit Ende des zweiten Weltkrieges und auch in 40 Jahren DDR. Und so richtig wie der Satz „Es war nicht alles schlecht“ über das untergegangene Land mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz im Staatswappen ist, so zutreffend ist er auch heute auf 30 Jahre deutsche Einheit. Und wer ehrlich zu sich selbst ist, muss diesen Satz erweitern: Es war nicht nur nicht alles schlecht in den letzten 30 Jahren, es ist vieles auch sehr gut gelaufen. Wie gesagt, es gab auch große Enttäuschungen, aber es ist auch Großes geschaffen worden. Deutschland steht heute im internationalen Vergleich super da – wirtschaftlich, sozial, ökologisch. In Sachen Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit gehören wir zu den liberalsten Ländern der Welt. Nahezu jedes Wochenende findet jetzt in Leipzig, wo im Herbst 1989 die Friedliche Revolution in der DDR ihren Anfang nahm, irgendeine Demo statt. Ein Recht, das inzwischen manchen nervt, mit Forderungen, die manchem als absurd erscheinen. Und mancher mag inzwischen auch befinden: Hat ja eh alles keinen Sinn. Aber: Jeder kann den Mund aufmachen, kann sagen, was er denkt, ohne fürchten zu müssen, dass irgendeiner ihn verpfeift - mit vielleicht schwerwiegenden Folgen. Das ist ein ganz großer Unterschied zum Alltag in der DDR. Und daran darf an so einem 30. Jahrestag durchaus einmal erinnert werden. Im Gespräch mit Chefredakteuren der Madsack Mediengruppe in dieser Woche in Berlin hat Bundeskanzlerin Angela Merkel aus ihrer Perspektive mit ostdeutscher Sozialisation gesagt, das Leben in der alten Bundesrepublik sei von uns vielleicht auch manchmal überhöht worden. Wahrscheinlich war es so. Aber seit der Einheit hat sich der Osten massiv in Richtung Westen verändert, und der Westen hat dadurch viel von dem Glanz verloren, mit dem er uns einst aus den Paketen mit Lux-Seife, Jacobs-Kaffee und Milka-Schokolade entgegenstrahlte. Keine Frage, Deutschland einig Vaterland ist auch mit Einigkeit und Recht und Freiheit nicht das Paradies auf Erden. Aber für Millionen Menschen, jenseits der Grenzen, ist das Land, in dem wir leben, das Sehnsuchtsland schlechthin. Von Jan Emendörfer