Dresden: Mediziner rät Menschen über 60 zur AstraZeneca-Impfung

Das Deutsche Rote Kreuz Sachsen hat alle Impfungen mit dem AstraZeneca-Impfstoff ausgesetzt. Die Ständige Impfkommission empfiehlt, das Vakzin nur an Personen ab 60 Jahre zu verimpfen. Damit werden bald auch viele Dresdner vor der Entscheidung stehen: Lasse ich mich mit AstraZeneca impfen oder nicht? Professor Dr. Sebastian Schellong ist Chefarzt der 2. Medizinischen Klinik am Städtischen Klinikum Dresden. Im DNN-Interview erläutert der Gefäß- und Blutgerinnungsspezialist das Problem mit den Nebenwirkungen des AstraZeneca-Impfstoffes. Frage: Würden Sie sich mit AstraZeneca impfen lassen? Professor Dr. Sebastian Schellong: Ich bin männlichen Geschlechts und über 60 Jahre alt. Ich würde mich mit AstraZeneca impfen lassen. Ich bin 55 Jahre alt. Was empfehlen Sie mir? Solche Altersgrenzen sind immer willkürlich. Bei den Nebenwirkungen scheint es sich um ein Problem zu handeln, das überwiegend bei Frauen unter 55 Jahren auftritt. Jeder Geimpfte ist ein Vorteil in der Pandemie. Was löst die Nebenwirkungen aus? Es handelt sich um eine Nebenwirkung, die in dieser Form als Impfkomplikation noch nicht bekannt war. Zum Glück konnten Experten in Greifswald den Mechanismus sehr schnell aufklären. Die Komplikation ähnelt einer Medikamentennebenwirkung, die bei Gabe des Blutverdünners Heparin auftritt. Bei den Impfungen mit AstraZeneca tritt diese Nebenwirkung in sehr wenigen Fällen als überstarke Immunantwort auf. Eine Impfung soll ja eine Immunantwort erzeugen. Bei starken und – wie hier – überstarken Fällen kommt es jedoch zu dieser durch einen Immunmechanismus ausgelösten Verklumpung von Blutplättchen und zu Thrombosen. Das haben die Kollegen in Greifswald anhand der Blutproben nachweisen können. Thrombosen im Hirn statt in den Beinen: Wie gefährlich sind diese Thrombosen? Zunächst: Diese Art von Nebenwirkungen tritt wirklich sehr selten auf. Aber: Ja, diese Art von Thrombosen ist gefährlich. Die Medizin versteht im Moment noch nicht, warum sie im Gehirn auftreten und nicht dort, wo Thrombosen sonst am häufigsten zu finden sind – also in den Beinen. Von der Komplikation sind überwiegend Frauen zwischen 20 und 50 Jahren betroffen. Warum das so ist – auch das ist noch völlig unverstanden. Im Umkehrschluss lässt sich aber sagen, dass das Risiko für Personen, die nicht zu dieser Gruppe gehören, deutlich geringer ist. Gegenwärtig sind 31 Fälle bekannt, darunter nur zwei Männer. Ist AstraZeneca ein Impfstoff zweiter Klasse? Das klingt herabwürdigend. Es handelt sich um eine weltweit außergewöhnliche Situation. Menschen kommen in kürzester Zeit in riesiger Zahl mit völlig neuen Impfstoffen in Berührung und man muss begleitend forschen und sehen, was passiert. Es ist großartig, dass Impfstoffe so wahnsinnig schnell entwickelt worden sind. Das Verständnis von Nebenwirkungen wächst praktisch zeitgleich mit – auch das ist sehr beachtlich und gut. Alle Beobachtungen dazu sind neu und man muss darauf reagieren. Zuerst kein AstraZeneca für Ältere, dann kurzzeitiger Impfstopp, jetzt AstraZeneca nur noch für Ältere. Wie soll man bei diesem Hin und Her Vertrauen in den Impfstoff aufbauen? AstraZeneca hatte zunächst zu wenig Zahlen für über 65-Jährige vorgelegt. Deshalb war es vernünftig und nachvollziehbar, den Impfstoff für über 65-Jährige nicht zuzulassen. Eine solche vorsichtige Entscheidung sollte zunächst einmal das Vertrauen in unsere Zulassungsbehörden stärken. Als dann mehr Daten für über 65-Jährige vorlagen, wurde der Impfstoff freigegeben – wiederum eine vernunftbasierte Entscheidung. In der jetzigen Situation schließlich sollten wir extrem stolz auf das System der Überwachung von Medikamentennebenwirkungen in Deutschland sein, denn hier gibt es zuerst präzise Angaben dazu. Wir haben in Deutschland 2,2 Millionen mit AstraZeneca geimpfte Menschen. Dabei wurden 31 derartige Reaktionen registriert, bis auf eine Person bei Menschen unter 60 Jahren, neun Menschen sind gestorben. Auf diesen Zahlen basiert die neue, vorsichtige Entscheidung, den Impfstoff nur an Personen ab 60 Jahre zu verimpfen. Mit dieser erneuten Entscheidung kann man sowohl Vertrauen in unsere Behörden als auch in den Impfstoff haben. Wann wird AstraZeneca wieder für alle Erwachsenen freigegeben? Es ist viel zu früh, darüber jetzt zu sprechen. Wir wären sehr froh, wenn wir nun auch aus England Daten bekommen würden, damit man die Häufigkeit von Impfreaktionen beurteilen kann. Dort wurde ja sehr viel Impfstoff von AstraZeneca verabreicht. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die Komplikationen in anderen Ländern nicht auftreten. Sollte es sich um eine Sondersituation in Deutschland handeln, dann könnte ein Chargenproblem die Ursache sein. Aber das halte ich für nahezu ausgeschlossen. Wenn mehr Daten vorliegen, kann man Wahrscheinlichkeiten noch genauer berechnen und wiederum vernunftbasierte Entscheidungen treffen. Noch einmal: Wir sprechen von Risiken, die äußerst selten sind. Impfnebenwirkung weniger wahrscheinlich als schwerer Coronaverlauf: Was würden Sie Dresdnern empfehlen, die jetzt vor der Entscheidung stehen? Ich halte es nach der jetzigen Datenlage für sehr vernünftig, Frauen unter 55 Jahren nicht mit AstraZeneca in Berührung zu bringen. Menschen über 60 rate ich zur Impfung – auch mit AstraZeneca. Lesen Sie auch Astrazeneca ausgesetzt: Was das für die Impfpraxis in Dresden bedeutet Sind die starken Reaktionen möglicherweise ein Problem des neuen Prinzips eines Vektorimpfstoffs? Dass man mit nicht vermehrungsfähigen Viren impft, ist nicht neu. Neu ist, dass in den Vektor ein Stück genetische Information eingebaut wird, die die Immunität erzeugen soll. Der Vektor, der gewählt wurde, hat offenbar das Potenzial, diese Reaktionen auszulösen. Das könnte dann bei den anderen Vektorimpfstoffen auch der Fall sein. Dafür gibt es aber bisher keine Hinweise. Was ist höher? Das Risiko, an Corona schwer zu erkranken? Oder das Risiko einer starken Impfreaktion bei AstraZeneca? Das Risiko, eine schwere Corona-Erkrankung zu bekommen, ist derzeit in jedem Fall deutlich höher, als dass sich eine lebensbedrohliche Impfnebenwirkung einstellt. Bei Personen über 60 Jahre spricht alles ganz klar zugunsten einer Impfung mit AstraZeneca. Für Frauen unter 55 Jahren gibt es Alternativen, die auch eingesetzt werden sollten. Ich sage aber deutlich: Wenn AstraZeneca der einzige verfügbare Impfstoff auf der ganzen Welt wäre, sollte man die ganze Welt mit AstraZeneca impfen. Von Thomas Baumann-Hartwig