Leipziger Arzt: „Ich halte den General-Lockdown für eine politische Fehlentscheidung.“

Der Leipziger Arzt Dr. Thomas Lipp (60) hält wenig von Lockdown-Maßnahmen. Er fordert ein Umdenken bei der Bewältigung des Corona-Problems. Herr Dr. Lipp, die Hausärzte sollen ab 1. April gegen Corona impfen dürfen. Gute Idee oder doch nur zweitbester Vorschlag? Weder noch. Das ist eine Grundforderung seit Monaten von Berufenen, die die Erfahrung haben, jedes Jahr 20 Millionen Menschen gegen Grippe zu impfen. Das ist keine gute Idee, sondern das einzig richtige Vorgehen. Voraussetzung ist: Es muss genügend Impfstoff vorhanden sein und die Priorisierungsdefinition muss klar und transparent sein, um unnötige Verteilungsdebatten aus den Sprechzimmern fernzuhalten. „Gesellschaft in ständigem Alarm“: Sie kritisieren das Impfmanagement in Deutschland. Wer ist denn Ihrer Meinung nach schuld? Die Politik. Ich habe das Gefühl, dass alles, was zur Entlastung individueller Bedrängnis geeignet ist, systematisch weggedrückt wird, damit die Gesellschaft in einer Art ständigem Alarms ist. Um von einem Lockdown in den nächsten zu fallen. Das ist aber keine Lösung, Wir haben schließlich noch ganz andere Probleme mit Covid. Welche meinen Sie? Ich fürchte mich – ehrlich gesagt – vor dem Post-Covid und Long-Covid-Syndrom. Weil Covid eine Erkrankung ist, die offenbar über das Gerinnungssystem die Organe schädigt. Da drohen Folgen, die wir jetzt noch gar nicht auf dem Schirm haben. Deshalb vor allem ist – für mich – Corona eine so kritische Erkrankung. „Kassen zahlen nicht“: Wie sehen die Symptome dafür aus? Beispielsweise dass Patienten monatelang Schwierigkeiten haben, zwei Etagen zu schaffen. Da wird die Luft knapp, sie schmecken und oder riechen nichts. Da ist so selten nicht. Dazu kommen jene, denen es nach dem Verlauf der Erkrankung nach einiger Zeit wieder schlechter geht. Wie könnte solchen Patienten am besten geholfen werden? Die primären Anlaufstellen sind Hausärzte, die könnten das diagnostizieren. Es gibt beispielsweise Laborwerte, die ganz klar zeigen, ob Herz oder Niere betroffen sind. Das Ganze würde 68 Euro kosten, die Krankenkassen in Sachsen bezahlen aber nur 1,19 Euro dafür. „Behandlung der Langzeitfolgen teurer“: Sie sind doch Chef des sächsischen Hartmannbundes – haben Sie darüber mal mit den Krankenkassen geredet? Ich habe die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Krankenkassen aufgefordert, diese Patienten aus den Budgets herauszurechnen. Das passiert aber nicht. Die Krankenkassen stellen sich stur. Budget sei Budget. Für solche Untersuchungen müsste folglich bei den anderen Patienten und anderen Ärzten gekürzt werden. Ergo wird diese feingranulare Diagnostik nicht stattfinden. Lieber wartet man, bis es den Leuten schlechter geht. Die Behandlung der Langzeitfolgen ist dann viel teurer. Zurück zum Impfmanagement: Wie bekommt man das schneller und besser hin? Was bei dieser Problematik völlig außer acht gelassen wird, ist das Thema Antikörper. Wir sagen heute aus wissenschaftlichen Gründen: Wer Covid hatte – ob bewusst oder unbewusst – und Antikörper entwickelt hat, der braucht in den kommenden acht Monaten nicht geimpft werden. Denn wer Antikörper hat, der wird nicht oder zumindest weniger krank. Und er streut das Virus auch weniger. „Das passiert nichts mehr“: Wie sähe das denn praktisch aus? In Leipzig beispielsweise werden in der Biocity jeden Tag hunderte von Menschen mit Antikörpern ermittelt. Mein Vorschlag zur Grundlagenforschung war: diese über acht Quartale hinweg beobachten. Dann wird man feststellen: Wer Antikörper hat, hat auch über einen bestimmten Zeitraum hinweg einen Schutz vor Corona. Der kann raus. Da passiert nichts mehr. Ich halte den General-Lockdown für eine politische Fehlentscheidung. Wie viele Menschen betrifft das denn? Gerechnet wird inklusive Dunkelziffer mit etwa 15 bis 17 Millionen Menschen in Deutschland, die Covid hatten. Könnte man die herausfiltern, brauchte man sie nicht zu impfen und hätte damit mehr Impfstoff für die anderen. Wieso stellen diese Menschen eine kleinere Gefahr dar? Wenn ein Immunsystem angegriffen wird, beginnt es, die Viren zu vernichten und damit die Virenlast zu senken. Sinkt aber die Virenlast, geht auch das Risiko andere anzustecken zurück. Kurz: Das Vorhandensein von Antikörpern kann ein objektiver Grund sein, Menschen mehr Freiheit zu geben. „Antikörper sind etwas Schicksalhaftes“: Die gleiche Diskussion hatten wir schon mal um die Geimpften. Dass man Geimpften keine Privilegien geben kann, solange nicht alle die gleiche Chance hatten geimpft zu werden, verstehe ich. Aber durchgemachte Erkrankungen und damit die Bildung von Antikörpern sind etwas Schicksalhaftes. Wer sie hatte, muss nicht isoliert werden. Er kann einkaufen gehen, er kann als Verkäufer arbeiten. Würden Sie sich so weit aus dem Fenster lehnen, für diese Menschen die Ausgangssperren oder den 15-Kilometer-Radius dort, wo so etwas existiert, aufzuheben? Da gibt es dutzende verschiedene Meinungen. Meine lautet: Eigentlich ja. Denn sie spielen ja epidemiologisch keine Rolle mehr. „Normale Rechte“: Spaltet das diese Gesellschaft dann nicht noch mehr? Und sind dann überhaupt Kontrollen vorstellbar? Jeder kann sich seine Antikörper bestimmen lassen. Und dann gäbe es abgestuft die Möglichkeit, wieder am normalen Zivilleben teilzunehmen. Das sind ja keine Sonderrechte für Bürger, sie dürfen schlicht ihre normalen Rechte wieder wahrnehmen. Machen wir es doch mal konkret. Max Mütze hatte das Virus bereits und sitzt nun auf der Decke im Park und feiert mit Freunden Party. (Wärmere Temperaturen immer vorausgesetzt). Der Eindruck für Außenstehende wäre doch fatal!? Erstens: Natürlich wäre ein Nachweis der Antikörper zwingend. Zweitens: Da wir noch immer nicht präzise wissen, ob ein Geimpfter oder Antikörper positiv getesteter Patient nicht mehr infektiös ist, sollten Regeln wie Mindestabstand oder das Tragen eines Mund-Nasenschutzes (in Räumen) schon noch eingehalten werden. Ich selbst glaube, dass die Bevölkerung bei einer solch klaren Aussicht auch Verständnis hätte. Es gibt ja auch keinen Riss in der Gesellschaft zwischen den Tumor-Erkrankten und den Tumor-Nichterkrankten. Es ist schicksalhaft. „Impfpflicht bekommen wir sowieso“: Wie soll man das dann politisch unterscheiden? Politisch kann man das nicht klären. Die einen haben die Antikörper und die anderen müssen eben warten, bis sie geimpft sind. Also doch eine Impfpflicht durch die Hintertür? Die bekommen wir doch sowieso. Das haben wir bei den Masern auch gehabt. Ich bin ein sehr liberal denkender Mensch, aber im Hinblick auf das Land, auf seine Wirtschaft und die Millionen bedrohter Kleinexistenzen ist für mich eine Impfpflicht erträglicher. Man kann natürlich auch eine andere Meinung dazu haben. Es gibt da nicht Recht oder Unrecht. Was ich der Bundesregierung vorwerfe, ist, dass es eine Handvoll Politiker gibt, die alles entscheiden und den Diskurs mit den Experten rigoros unterbinden. „Ein Virologen-Schattenkabinett“: Die Runden mit den Virologen gibt es doch aber regelmäßig? Eine richtige Beratungsrunde hat die Kanzlerin bis heute nicht, sondern nur eine Art Virologen-Schattenkabinett. In solch eine Runde gehört aber neben Virologen ein Epidemiologe, ein Soziologe, ein Pädagoge, ein Kinderarzt und ein Psychiater. Und der allgegenwärtige SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der ist doch Arzt? Der ist vor allem Facharzt für Kameras und Mikrophone, hat aber noch nie einen Patienten behandelt. „Warum wurde Amateursport verboten?“: Gesetzt, die Runde wäre vorhanden. Was müsste denn geschehen? Wir haben nach zwölf Monaten Covid noch immer keine Auftragsversorgungsforschung dazu in der Bundesrepublik. Warum wurde der Amateursport beispielsweise über Sommer und Herbst verboten? Wenn Kinder im Freien über den Rasen rennen, aber eine Infektion vor allem bei nahen Begegnungen unter 1,5 Meter erfolgt oder nach einer Viertelstunde? Beim Tennis ist es genauso. Ich habe gelesen, dass in Sachsen ein Drittel der Mitglieder aus den Sportvereinen ausgetreten ist. Im Freien ist eine Ansteckung quasi nicht möglich. Nur im Gedränge. Okay, die Kids sitzen aber anschließend in der Umkleidekabine und scheren sich nicht um die Abstandsregel. Jede Kneipe, jedes Museum hat, wenn es öffnen darf, ein Hygienekonzept. Das sollte man dann schon einhalten. Und dass es irgendwo immer jemanden gibt, der sich nicht dran hält, ist auch klar. Aber ist das im Vergleich mit den Kollateralschäden eines Lockdowns nicht erträglicher? „Management in die Hände der Selbstverwaltung“: Also plädieren Sie für eine Aufhebung des Lockdowns? Ich bin nicht befugt, eine solche Entscheidung vorzugeben. Was ich fordere, ist, dass diese Regierung statt wöchentlich Milliarden für Wirtschaft und anderes auszugeben, Studien in Auftrag gibt, um zu sehen, ob sich in einer Kneipe mit den entsprechenden Hygienemaßnahmen überhaupt jemand infizieren kann. Ob ein Museum ein Infektionsherd ist, ob Amateursport, der draußen stattfindet, ein Risiko birgt. Wenn Sie der Regierung so wenig vertrauen: Was würden Sie denn vorschlagen? Ich würde vorschlagen, dass man das Management der medizinischen Versorgung in der Covid-Krise viel mehr in die Hände der ärztlichen Selbstverwaltung legt und weniger politisch intendiert handelt. Ich glaube, dass wir Ärzte das besser organisieren können – Kliniken, Fachärzte und Hausärzte gemeinsam. Wir könnten – rein theoretisch – in drei Monaten die ganze Bundesrepublik durchimpfen. „Das ist unser Job“: Nun wissen wir aber gerade aus der Vergangenheit, dass das in der Praxis dann doch nicht so gut klappt. Da sind die Interessen der Kliniken und der Hausärzte sehr unterschiedlich. Bei der Video-Sprechstunde kränkelt es auch noch immer. Das ist etwas ganz anderes in Krisenzeiten. Ich mache mir da keine Sorgen. In Sachsen stünden 3000 Ärzte bereit, um zu impfen. Doch die brauchen wir gar nicht alle. Es fehlt an medizinischen Fachangestellten, die den Ärzten assistieren. 95 Prozent aller niedergelassenen Ärzte würden eine Woche ihre Praxis schließen und impfen, wenn das finanziell geregelt würde. Das ist unser Job. Lesen Sie auch: 50 Angestellte der Stadt Leipzig sollen bereits geimpft sein Zu wenig Platz und zu hohe Taktung: Kritik am Stau im Leipziger Impfzentrum Corona-Drama in Pflegeheimen erreicht die Leipziger Stadtpolitik Von Roland Herold