„Hitlers Vorreiter“ in Oschatz

Ich war neugierig, was mich bei der Lesung von Niklas Sieber im Vogtshaus Oschatz erwarten würde. Ein Enkelsohn, der erkannte, dass sein Großvater vor vielen Jahren die Diktatur der Nazis – besonders in der Region Oschatz – gefestigt hat. Der Enkel selbst bezeichnet Heinrich Sieber in seinem Buch als „Hitlers Vorreiter“. So freute ich mich auf einen spannenden Abend und war enttäuscht, dass der Referent aufgrund neuer Corona-Regelungen nicht aus Stuttgart nach Oschatz reisen konnte. Doch deshalb sollte die Veranstaltung nicht ausfallen. Organisatorin Grit Jähn ließ sich etwas einfallen, damit die Interessierten trotz allem der Lesung lauschen konnten. Denn alles fand online statt. Einige Besucher versammelten sich im Vogtshaus Oschatz vor der Leinwand, andere, so wie ich, machten es sich daheim auf der Couch bequem. Es war überraschend einfach. Ein Link, auf den ich drücken musste, einfach meinen Namen eingeben und schon war ich mit dabei. Live. Und konnte gemütlich bei der rund zweistündigen Lesung dabei sein – quasi in erster Reihe. Doch nun zum eigentlichen Thema: dem Buch von Niklas Sieber, „Hitlers Vorreiter“. Nie ein Gesprächsthema: „Mein Großvater war bei Familienfeiern nie ein Gesprächsthema“, erzählt Niklas Sieber. „Erst später fand ich heraus, dass er Abgeordneter im Reichstag war. In welcher Partei, fragte ich. In der NSDAP.“ Karl Heinrich Sieber wurde 1888 in Ronneburg geboren, machte sein Abitur am Realgymnasium Gera. Im Ersten Weltkrieg erhielt er fünf Medaillen aufgrund seiner Tapferkeit. Er studierte 1919 und 1920 an der landwirtschaftlichen Hochschule in Leipzig. „Die Uni war das Hauptquartier der Freikorps unter General Märker, der im März 1920 in Sachsen einmarschiert war, um die sächsische Regierung zu beseitigen. Diese Freikorps versuchten, auch die Reichsregierung in Berlin zu stürzen. Da die Reichswehr den Aufstand nicht niederwarf, wurde die sozialdemokratische Regierung zur Flucht aus der Hauptstadt gezwungen. Nur ein Generalstreik, organisiert von den Gewerkschaften, konnte verhindern, dass die junge Demokratie in eine Diktatur verwandelt wurde“, so der Autor. „Heinrich studierte nur zwei Semester Landwirtschaft und beschloss dann, dass er genug von dem Chaos in der Stadt hatte.“ Krise in Sachsen: 1920 heiratete Heinrich Sieber Gertrud Gadegast und bekam mit ihr später drei Kinder. Die Familie Gadegast hatte es zu Wohlstand gebracht. Ihr gehörten die Güter Cannewitz, Mannschatz, Thalgut bei Oschatz und Schmorkau. „Gertrud brachte das Rittergut Wiederoda in die Ehe ein. Im stattlichen Herrenhaus mit 42 Zimmern lebte sie nun mit Heinrich zwölf Kilometer von der Kreishauptstadt Oschatz entfernt.“ Das Gut hatte 275 Hektar, davon 195 Hektar Ackerland. Als Henrich das Gut übernahm, gab es 25 Pferde, 110 Rinder, 900 Schafe und 100 Schweine. „Während Heinrich sich in den folgenden Jahren vornehmlich der Landwirtschaft widmete, gingen in Sachsen die Unruhen weiter“, schreibt Niklas Sieber. In Sachsen herrschte große Armut und insbesondere die Bauern hatten unter ständigem wirtschaftlichen Druck zu leiden. „Die Krise verschärfte sich im Oktober 1929 durch den ,schwarzen Freitag’ an der New Yorker Börse, der die Weltwirtschaftskrise nach sich zog. Sachsen war stärker von der ökonomischen Krise erfasst als jeder andere Staat in Deutschland. Besonders hart traf es die sächsischen Bauern.“ Politisches Engagement in Splittergruppe: Heinrich engagierte sich im Sächsischen Landvolk, einer radikalen bäuerlichen Protestbewegung, die aus der Not der Kleinbauern heraus gegründet worden war. Bei der Reichstagswahl erhielt das Sächsische Landvolk in der Region 14,8 Prozent aller abgegebenen Stimmen und war somit die drittstärkste Kraft in der Amtshauptmannschaft, aber im Reichstag nur eine kleine Splitterpartei. „Reichsweit waren die Nazis die größten Gewinner der Wahl, weil sie die stärksten Zuwächse verzeichnen konnten. Sie blieben aber dennoch zweitstärkste Kraft im Reich.“ Schnell verließ Sieber die Fraktion der Landvolkpartei und unterstützte die NSDAP nicht nur in den Abstimmungen, sondern auch bei Aktionen der Nazis, die die Arbeit des Parlamentes boykottierten. „Angenommen Heinrich hätte zu dem Zeitpunkt ,Mein Kampf’ noch nicht gelesen, so kannte er doch die Einstellung der Nazis zur Demokratie und die Frechheit, die sie sich im Parlament rausnahmen. Heinrich lehnte ebenso wie die Nazis nicht nur die Demokratie ab, sondern wollte sie auch mit allen Mitteln bekämpfen.“ Der NSDAP beigetreten: Heinrich Sieber trat 1931 der NSDAP bei und unterstützte sie als „Gauredner“ bei Wahlkämpfen. In Oschatz wurde das Hotel zum Goldenen Löwen für viele NSDAP-Wahlkampfveranstaltungen und als Ausgangspunkt für Demonstrationen und Umzüge genutzt. Auch Heinrich Sieber hielt Reden zum Thema „Gebt Hitler die Macht“ und „Der Nationalsozialismus bringt Frieden, Wohlstand und Brot“. Die NSDAP wurde schließlich vor der SPD die stärkste Kraft im Kreis Oschatz. Reichspräsident Hindenburg ernannte am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler und drei Tage später gab es einen großen Fackelzug in Oschatz, auf dem Sieber eine Ansprache hielt: „Unsere Parole ist Deutschland, allein Deutschland“. Es dauerte nur 15 Tage, bis über Oschatz die erste Verhaftungswelle rollte. Siebers Kollegen von der SA und die Polizei verhafteten unliebsame politische Gegner und sperrten viele in das Konzentrationslager Pappenheim ein. Es steht heute fest, dass in Pappenheim schwere Menschenrechtsverletzungen stattfanden, deren Grausamkeiten sich der Referent sparte zu schildern. Oschatz wird „judenfrei“: Am 5. März 1933 wurde der Reichstag auch in Oschatz ohne große Zwischenfälle gewählt. „Da die Opposition in Oschatz teilweise in Haft, auf der Flucht oder umgebracht war, kann nicht von einer freien Wahl gesprochen werden. Die NSDAP errang unter Heinrichs Mithilfe 47,5 Prozent der Stimmen. Heinrich rückte auf der sächsischen Landesliste nach und kam wieder in den Reichstag“, so steht es im Buch. Kaum im Parlament, stimmte er Hitlers Ermächtigungsgesetz zu, das praktisch die Weimarer Demokratie beendete. Die SPD stimmte trotz bewaffneter SA im Parlament mutig dagegen. Heinrich bezeichnet kurz darauf bei einem „Deutschen Abend“ im Oschatzer Landbundhaus „die Abrechnung des Kanzlers mit der Sozialdemokratie als den Höhepunkt der jüngsten politischen Ereignisse“. „Heinrichs SA verfolgte nicht nur die politischen Gegner, sondern auch die jüdischen Einwohner in Oschatz. 1932 wohnten noch 19 Juden in Oschatz. Diese Zahl reduzierte sich bis 1937 auf sieben und am 1. Januar 1938 wurde stolz verkündet, dass Oschatz ,judenfrei’ sei.“ Aktiv in der Reiter SA: Nach dem Januar 1933 stieg Heinrich Sieber kometenhaft in der Partei, der SA und auch auf der Bezirks- und Gemeindeebene auf. Er war Mitglied des Gemeinderates und Vorsitzender des Bezirkstages. Vier Wochen nach Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurde Heinrich in den Bezirksrat gewählt. Möglicherweise trat bei Sieber aber im Laufe der Zeit eine gewisse Ernüchterung über die politische Praxis ein, denn schon im Mai 1935 war er von seinem Amt als Hauptabteilungsleiter der Landesbauernschaft zurückgetreten. Unbekannt ist, warum er auf verschiedene Ämter verzichtete. Sieber engagierte sich stattdessen bei der Reiter-SA, in der er bis zum Ende des Krieges den Rang eines Brigadeführers (Generalmajor) und den Posten des Landesreiterführers für Sachsen innehatte. An den Sitzungen des Reichstags, „Deutschlands höchstbezahltem Männergesangsverein“, nahm er regelmäßig teil, um Hitler zu applaudieren. Dann folgte für Heinrich der Zweite Weltkrieg, den er miterlebte. Schon vor Beginn des Krieges war Heinrich zum Major der Reserve befördert worden. Unter falschem Namen untergetaucht: Erst nach umfangreichen Recherchen Niklas Siebers kam heraus, dass Heinrich den Befehl hatte, in einigen Städten im Osten sämtliche Juden auf den Marktplätzen zusammenzutreiben und dort erschießen zu lassen. Er habe die Juden zwar zusammengetrieben, sie jedoch in die Wälder entweichen lassen. Aufgrund einer Herzkrankheit schied Heinrich aus dem aktiven Militärdienst aus, was ihm sein Leben rettete, denn seine Einheit wurde später unter schweren Verlusten aufgerieben. Am Ende des Krieges wollte Kreisleiter Albrecht die Stadt verteidigen, obwohl sich Russen und Amerikaner kurz vorher bei Torgau die Hand gegeben hatten. Das konnte zum Glück durch eine Demonstration von etwa 200 mutigen Frauen verhindert werden und Oschatz wurde am 27. April kampflos an die Amerikaner übergeben. „Deshalb ist der schöne Marktplatz der Nachwelt erhalten geblieben“, sagt Niklas Sieber. Heinrich Sieber tauchte unter, flüchtete in den Westen und nahm verschiedene Namen an. Aufgrund seiner Nazitätigkeit wurden „im Oktober 1945 die Familiengüter Wiederoda und Cannewitz entschädigungslos enteignet und der Familie eine Enteignungsurkunde zugestellt, mit dem Hinweis, dass sie den Landkreis verlassen müsste. Im Sommer 1946 wurde Heinrich schwer krank. Er starb am 31. August 1946 an den Folgen einer Lungenentzündung.“ Kein Mitläufer, sondern „Hitlers Vorreiter“: Am Ende des Vortrags fasste Niklas Sieber noch einmal zusammen: „Heinrich war ein hoher Repräsentant einer Diktatur, die unsägliches Leid und Elend über Europa verbreitet hat. Heinrich kann auf keinen Fall nur als Mitläufer eingestuft werden. Im Gegenteil. Er hat im Rahmen seiner Möglichkeiten alles getan, um Hitler an die Macht zu bringen, die Diktatur der Nazis zu festigen und den Zweiten Weltkrieg vorzubereiten. Er war kein Mitläufer, sondern Vorreiter Hitlers.“ Von Kristin Engel