Koma und künstliche Ernährung: Wie Willi (77) aus Nordsachsen eine Corona-Infektion überlebte

„Ich wollte mich zurückmelden. Ich lag sieben Tage im Koma. Nun muss ich das Laufen wieder lernen, bevor ich wieder nach Hause kann.“ Mit diesem Anruf überraschte Rentner Willi einige Leute. Der 77-Jährige erkrankte schwer an Corona. Es musste sogar darüber entschieden werden, ob im Krankenhaus die lebenserhaltenden Maßnahmen im Fall eines Organversagens noch fortgesetzt werden sollten. Zum Glück stabilisierte sich jedoch sein Zustand und drei Wochen später konnte er freudestrahlend seine Frau zu Hause umarmen. Leuten die Augen öffnen: Warum wir über seine Geschichte anonym berichten sollen, wollten wir wissen. „Leider gibt es sehr viele Menschen, die die Corona-Krise leugnen. Ich habe Sorge vor Anfeindungen. Doch mir ist es wichtig, darüber zu berichten, um den Leuten die Augen zu öffnen.“ Nicht nur der Nordsachse, sondern auch seine Frau Rosi hatte neben der Sorge um ihren Mann ebenfalls schwer mit der Krankheit zu kämpfen. Noch heute hat sie Schwierigkeiten mit dem Atmen und kann während des Gesprächs ein ständiges Husten nicht unterdrücken. „Am 22. Dezember ging es uns noch gut“, erinnert sich der 77-Jährige. „Für Weihnachten und Silvester hatten wir mit den Kindern abgesprochen, dass jeder für sich bleibt, um uns Eltern als Risikopatienten nicht mit dem Coronavirus anzustecken. Unsere letzten Kontakte mit anderen Personen waren am 14. und 16. Dezember bei Arztbesuchen. Sonst nur noch Einkäufe.“ Und genau diese könnten es gewesen sein. Am 24. Dezember wollten sie sich ein schönes Essen zubereiten. Bei Rosi begann an diesem Abend der Husten mit viel Auswurf, nachts Schwitzen, erhöhte Temperatur, Gliederschmerzen und vollkommenes Krankheitsgefühl. Willi hielt etwas länger durch. Am 28. Dezember klagte aber auch er über Schmerzen unter der Brust und besuchte am nächsten Tag seinen Hausarzt. Obwohl dieser die Anordnung für einen Corona-Test gab, schickte ihn ein Kollege lediglich mit Schmerzmitteln nach Hause. „Bei drei Schmerztabletten am Tag fühlte ich mich natürlich wieder besser.“ Der Fisch schmeckt nicht: Am Silvesterabend wollten sie sich einen Saibling zubereiten. Doch trotz ausreichend Gewürzen wollte der Fisch einfach nicht munden. Seiner Frau ging es immer schlimmer, sodass am ersten Tag des neuen Jahres gleich der Notarzt gerufen werden musste. Dann war es klar. Der Test zeigte es deutlich: Corona-positiv. Willi machte derweil einen ziemlich munteren Eindruck. Das änderte sich ab 5. Januar: Kurzatmigkeit, Appetitlosigkeit, Schwindel. Er hatte bereits zwei Kilo verloren. Sein Zustand verschlechterte sich, aber auch seine Frau kam nur schwer aus dem Bett hoch. Sie riefen beim Hausarzt an. Die 76-Jährige sollte ihren Mann zum Arzt bringen. Doch sie konnte sich selbst kaum auf den Beinen halten. Den Notarzt gerufen: Schließlich riefen sie den Notarzt an, der den Rentner am 8. Januar ins Krankenhaus überwies. Er hatte zu wenig Sauerstoff im Blut. „Deshalb konnte er nicht mehr essen, weil er den restlichen Sauerstoff für die Aufrechterhaltung der Lungenfunktion brauchte“, erklärt seine Frau und ergänzt: „Für mich war das erst einmal eine Erlösung. Endlich hatte ich Ruhe, mich selbst zu erholen und die Sorge für meinen fieberkranken Mann an einen Arzt zu übergeben. Auch die Kurzatmigkeit meines Mannes war beunruhigend. Wir lagen beide eine Woche krank im Bett und ich quälte mich immer raus, um uns beide zu versorgen. Wir waren ganz auf uns allein gestellt.“ Im Krankenhaus schien es für den Nordsachsen erst einmal aufwärts zu gehen. Er schickte lustige Fotos von sich selbst von der Sauerstoffgabe und später, als es über die Nasenflügel nicht reichte, mit der Sauerstoffmaske. Er plante ein großes Familientreffen für Juli und alles schien gut zu gehen. Am Abend des 12. Januar schrieb er in der Familiengruppe noch ein „Gute Nacht“. Von da an ging es rasant abwärts. In der Nacht musste er auf die Intensivstation verlegt, am 15. Januar ins künstliche Koma versetzt und über einen Tubus beatmet werden. Seine roten Blutkörperchen konnten nicht mehr genügend Sauerstoff aufnehmen. Der Arzt sprach Rosi auf die Patientenverfügung ihres Mannes an. Diese besagt, dass keine lebenserhaltenden Maßnahmen durchgeführt werden sollen, wenn keine Chance auf ein lebenswertes Leben mehr besteht. Auch mit diesem Thema musste sich die Ehefrau nun auseinandersetzen. Familienrat mit den Kindern: Die Rentnerin galt mittlerweile offiziell als Corona-negativ. Mit den Kindern wurde Familienrat gehalten. „Die Kinder und mich hat die Situation sehr aus dem Gleichgewicht geworfen. Wir mussten uns gegenseitig unterstützen, um die Situation überhaupt zu verkraften. So plötzlich von gesund zu sterbenskrank. Was ist, wenn die Organe versagen? Wir sprachen über so viele Fragen. Die Ärzte berieten uns, wollten eine Entscheidung für den Fall des Organversagens. Der Tubus darf nur wenige Tage drin bleiben. Sollten sie eine Reanimation durchführen, wenn es keine Aussicht auf Besserung geben würde oder dadurch nur der Sterbeprozesses verlängert würde? Die Ärzte versuchten, ihn wieder aus dem Koma zu holen. Doch das gelang zuerst nicht. Er konnte nicht selbstständig atmen.“ Zum Glück stabilisierte sich sein Kreislauf, doch seine Lunge nahm zu wenig Sauerstoff auf. Die Ärzte waren „verhalten optimistisch“ und wollten es am nächsten Tag erneut versuchen. Beim dritten Versuch gelang es schließlich. Verrückte Träume: „Ich hatte während dieser Zeit verrückte Träume. Ich dachte ich hätte erlebt, wie sie mich nach Riesa verlegt hätten. Ich steckte in einem Plasterohr und sie haben mich mit einem Gabelstapler ausgeladen“, erinnert sich der Nordsachse an die Aufwachphase. Er fantasierte, da seine Gehirnfunktion erst einmal wieder anlaufen musste. Zum Glück hatte sein Gedächtnis nicht gelitten. „Ich hatte schreckliche Angst, als ich zu mir kam. Ich dachte, ich ersticke, weil man mittels dünnem Plasteschlauch den Schleim absaugte. Ich muss mich wie ein Verrückter aufgeführt haben und war zu meiner Sicherheit ans Bett fixiert. Wenn man denkt, dass man erstickt, dann schlägt man um sich. Ich habe nichts gehört oder verstanden.“ Bis zum Mittag hatte sich der Nordsachse wieder soweit beruhigt, dass er sich sein Telefon geben lassen konnte. So rief er am 21. Januar gegen Mittag seine Frau an. „Ich wusste erst gar nicht, wer am Telefon war. Er war so schlecht zu verstehen. Der Tubus hatte seine Stimme ganz verändert. Doch als ich es endlich wusste, konnte ich nur noch weinen.“ Seine Blutsättigung war gut, der Blutdruck jedoch sehr hoch. Er bekam über Nacht eine Sauerstoffmaske, um den Gasaustausch zu unterstützen. Treppensteigen geübt: Am 23. Januar konnte er schließlich wieder auf die normale Station gebracht werden und war dadurch auch wieder freier, musste aber weiterhin gelegentlich über die Nasenflügel zusätzlich mit Sauerstoff versorgt werden. Doch an Aufstehen war noch nicht zu denken. Er bekam Infusionen und Antibiotika. Der Rentner hatte das Gefühl, umher laufen zu können. So sprach er immer wieder mit den Schwestern und Physiotherapeuten, ob er es versuchen könne. Am 26. Januar durfte er es mit zwei Physiotherapeutinnen probieren und merkte selbst, dass es noch zu früh war. Seine Beine zitterten und er hatte keine Kraft, sich aufrecht zu halten. „Ich fühlte mich, als könnte ich Bäume ausreißen, doch als ich einen ,Grasbüschel‘ in der Hand hatte, war ich erschöpft.“ So beschreibt er seinen Zustand. Am nächsten Tag ging es dann schon besser. Daraufhin übte er das ganze Wochenende das Laufen und das Treppensteigen, um wieder nach Hause gehen zu dürfen. Am Abhang: „Ich muss zugeben, dass mir der Ernst der Situation selbst gar nicht bewusst war. Erst als ich mir die Chatverläufe der Familie durchgelesen habe, wurde mir klar, dass mein Leben am seidenen Faden hing und an welchem Abhang ich stand. Mir kamen die Tränen, als ich erfuhr, wie viel Mitgefühl ich von vielen Seiten erhalten hatte. Der Mensch, den es betrifft, empfindet es gar nicht so. Ich hatte ja keine Schmerzen. Bevor ich ins Koma kam, ging es mir ja auch gut. Nur das Essen schmeckte mir nicht. Ich dachte: ‚Die kriegen das schon hin.‘ Das haben sie zum Glück. An dieser Stelle muss ich den Ärzten und dem Personal meine Hochachtung für die erbrachte Leistung aussprechen. Aber auch meiner Familie bin ich unendlich dankbar. Nun bin ich wieder da!“ Von Kristin Engel