Eine Erfolgsgeschichte: 30 Jahre Neugeborenenscreening in Sachsen
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Im Labor am UKL werden im Neugeborenenscreening Bluttropfen auf Hinweise für 19 Erkrankungen untersucht. Zwei von ihnen sind erst am 1. Oktober 2021 dazugekommen.
© Quelle: Stefan Straube
Leipzig. Beginnend mit einer Reihen-Blutuntersuchung auf damals zunächst vier angeborene Stoffwechselstörungen, umfasst dieses Vorsorgeprogramm heute bereits das Screening auf 17 gefährliche Erkrankungen, zwei weitere sind ab 1. Oktober dazugekommen. Für die Betroffenen bedeutet das jeweils den Unterschied zwischen einem normalen Leben oder schweren Behinderungen bis hin zum frühen Tod.
Eine Million Neugeborene aus Sachsen und Thüringen wurden seit dem Start des Leipziger Labors im Jahr 1991 hier untersucht. Mehr als 700 kleine Patienten mit einer angeborenen Erkrankung konnten so rechtzeitig diagnostiziert werden.
Ein Tropfen Blut aus der Ferse macht dabei den Unterschied: So viel ist nötig, um großes Leid und Folgeschädigungen zu verhindern. Möglich macht dies eine hoch effektive Reihenuntersuchung – das Neugeborenenscreening, eine Erfolgsgeschichte moderner Medizin.
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Ein Pieks in die Ferse für ein paar Tropfen Blut ermöglicht die nachfolgende Untersuchung auf schwere angeborene Erkrankungen der Kinder
© Quelle: Stefan Straube
Gestartet ist das Programm in den 1960er-Jahren mit einer angeborenen Erkrankung, der Phenylketonurie. Unbehandelt führt diese Stoffwechselstörung zu schweren körperlichen und geistigen Schäden. Wird die PKU genannte Erkrankung jedoch rechtzeitig erkannt, kann dies mit Hilfe einer strengen Diät verhindert werden. Es gibt nur eine Bedingung: Damit muss sofort nach der Geburt begonnen werden.
Manchmal entscheiden nur Stunden
So wie bei der PKU kommt es auch bei anderen der 17 im Neugeborenenscreening untersuchten Erkrankungen manchmal auf Stunden an. Daher arbeitet das Screeningzentrum rund um die Uhr, an jedem Tag. Liegt das Ergebnis vor, werden die einsendenden Kliniken umgehend informiert, damit mit den Therapien sofort begonnen werden kann.
Allein in Sachsen profitieren davon jährlich 20 bis 30 Kinder. Bei allen handelt es sich um Patienten mit sehr seltenen Erkrankungen, deren Diagnose ohne Screening oft langwierig und schwierig wäre. „Dabei sind die Erkrankungen gut behandelbar, wenn sie frühzeitig erkannt werden“, erklärt Prof. Wieland Kiess, Direktor der Kinderklinik am Universitätsklinikum Leipzig. „In meiner beinahe 40-jährigen Tätigkeit als Kinderarzt war und ist daher das Neugeborenenscreening ein wichtiger Bestandteil der täglichen Arbeit.“
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3Neugeborenenscreening 1992: Ein Blick in das Labor in Klinga
© Quelle: Stefan Straube
Dank der schnellen Therapie noch vor dem Auftreten erster Symptome können sich betroffene Kinder gesund und normal entwickeln und sind nicht mehr wie früher lebenslang schwer krank.
„Unsere größte Herausforderung ist heute, die Kinder, Jugendlichen und auch deren Eltern von der Lebensnotwendigkeit der lebenslang erforderlichen Präventionsmaßnahmen zu überzeugen, denn erfreulicherweise empfinden sich die allermeisten Patienten, deren Diagnose im Screening nach der Geburt gestellt wurde, nicht als krank, sondern als gesund“, ergänzte Dr. Skadi Beblo. Die Kinderärztin betreut viele der im Neugeborenenscreening erkannten Patienten in der UKL-Kinderklinik.
Bei elf der im Screening diagnostizierten Erkrankungen erfolgt die Therapie mittels einer hochspezialisierten Diät. Bei anderen kommen Medikamente zum Einsatz. Oder Hilfsmittel, wie im Fall des seit 2009 integrierten Hörscreenings. Damit werden angeborene Schädigungen des Gehörs bei Kindern bereits am zweiten oder dritten Lebenstag entdeckt und können so sehr früh versorgt werden.
„Für das Sprechenlernen ist Hören sehr entscheidend“, erklärt der Kinder-Audiologe Prof. Michael Fuchs. „Dafür gibt es nur ein Zeitfenster in der frühen Kindheit. Je früher wir daher Kinder mit Hörschädigungen finden und behandeln können, umso besser sichern wir ihre Fähigkeit, sprechen zu können.“
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Zwei weitere Erkrankungen ins Screening aufgenommen
Im Jahr 2021 wurden ab dem 1. Oktober zwei weitere Erkrankungen in das Neugeborenenscreening aufgenommen – die Sichelzellanämie und Spinale Muskelatrophie. Und weitere werden folgen, davon ist Prof. Uta Ceglarek, die Leiterin des Leipziger Screeninglabors, überzeugt.
„Das wird möglich, weil wir heute mit modernsten massenspektrometrischen und molekularbiologischen Methoden arbeiten“, so die Klinische Chemikerin. „Vor 30 Jahren wurden aus vier Trockenbluttropfen vier Erkrankungen untersucht. Heute suchen wir in acht 3 Millimeter großen Blut-Spots nach 19 Zielerkrankungen.“
In der Zukunft werden sich sicher noch präzisere, umfassendere und schnellere Labormethoden für das Neugeborenenscreening entwickeln lassen: Insbesondere genetische Hochdurchsatzverfahren, die eine große Zahl von Proben in sehr kurzer Zeit bearbeiten können, werden es noch ergänzen und revolutionieren. Damit ist die Früherkennung von vielen weiteren angeborenen Erkrankungen und Störungen der kindlichen Gesundheit möglich – und die Fortschreibung einer Erfolgsgeschichte moderner Medizin.
Von Helena Reinhardt