Experimentierkästen werden 100 Jahre alt: „Wir versuchen, beide Geschlechter anzusprechen“
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Zwei Kinder experimentieren mithilfe eines Kastens mit chemischen Stoffen.
© Quelle: Kosmos Verlag
Experimentierkästen sind seit 100 Jahren ein beliebtes Geschenk für Kinder. Was macht den Reiz aus Ihrer Sicht aus?
Annette Büchele: Experimentierkästen versuchen, naturwissenschaftliche Themen einfach und verständlich zu vermitteln, interaktiv mit eigenen Erlebnissen. Dafür gibt es eine Anleitung, die Schritt für Schritt durch die Experimente führt. Die Kinder erleben so viel Selbstwirksamkeit. Das bereitet ihnen Freude. Auch die Eltern finden das gut. Sie legen großen Wert auf pädagogisch wertvolle Spiele, die auch noch Wissen vermitteln. Deshalb sind die Experimentierkästen so beliebte Geschenke.
Rainer Köthe: Experimentierkästen im weitesten Sinne gibt es seit dem 18. Jahrhundert. Sie richteten sich aber an Erwachsene, mit dem nötigen Wissen, Geld und Zeit. Sie waren eher Materialsammlungen zum Beispiel aus chemischen Stoffen. Die ersten Experimentierkästen des Kosmos-Verlags wurden von einem Physik- und Chemie-Lehrer entworfen. Sie enthielten weniger Teile, waren deutlich günstiger und richteten sich an Kinder und Jugendliche. Ich selbst bekam in den 50er-Jahren meine ersten Experimentierkästen. Sie haben meine Begeisterung für Naturwissenschaften und Technik nachhaltig geweckt. Damit bin ich nicht allein. Farbfernsehpionier Walter Bruch und Chemienobelpreisträger Manfred Eigen fanden nach eigener Aussage über Experimentierkästen einen Zugang zur Wissenschaft.
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Annette Büchele ist Leiterin der Experimentierkastenredaktion des Kosmos-Verlags und ist Ideengeberin für zahlreiche Kästen.
© Quelle: Kosmos Verlag
Wie entsteht heute ein Experimentierkasten?
Köthe: In der Regel kenne ich ein Ziel, also man soll ein Radio oder eine kleine Solaranlage bauen oder auch Kristalle züchten. Dazu passend suche ich Elemente, die für die Kinder geeignet und nicht zu teuer sind. Besonders gut eignen sich Teile wie Spulen, Leuchtdioden oder Magnete, die sehr vielfältig und jeweils für viele Experimente brauchbar sind. Natürlich muss am Ende auch etwas Schönes passieren, drehende Rotoren, Licht- oder Tonsignale oder schöne, farbige Kristalle. Bei der Anleitung fange ich mit leichten Versuchen an und steigere den Schwierigkeitsgrad langsam. Immer so, dass die Kinder auch verstehen, was da passiert. Daher baue ich auch naturwissenschaftliches Hintergrundwissen in die Einleitung ein, kindgerecht und spannend, versteht sich.
Büchele: Im Verlag kümmern wir uns nicht nur um die Inhalte, sondern auch um die Vermarktung, Gestaltung und Produktion der Experimentierkästen. Wir als Redaktion begleiten zudem die Entwicklung intensiv. Wir sprechen über Ideen, testen jedes Experiment, stimmen Materialien aufeinander ab. Außerdem müssen wir oft neue Teile entwickeln, vor allem, wenn ein Roboter oder eine Solaranlage zusammengebaut werden sollen. Dabei gibt es auch eine kaufmännische Komponente. Wir müssen genau prüfen, ob die Teile auch bezahlbar für die Eltern sind. Außerdem gibt es kleine Testerinnen und Tester, die unsere Experimentierkästen auf Herz und Nieren testen. Erst wenn die auch zufrieden sind, kommt das Produkt in den Handel.
Wie hat ein Experimentierkasten vor 100 Jahren ausgesehen?
Büchele: Die ersten Experimentierkästen waren echte Holzkisten. Darauf waren meist Jungen zu sehen, zwischen zehn und 15 Jahren, die mit den Inhalten spielten. Drinnen gab es viele Teile und eine sehr textlastige Anleitung. Der erste Experimentierkasten von 1922 war ein Elektrokasten mit Drähten, Spulen und vielen Schaltern. 389 Versuche sollte man damit machen können. Wenig später kamen noch Experimentierkästen zu den Themen Optik, Chemie und Radio dazu.
Wie haben sich die Experimentierkästen in den letzten 100 Jahren weiterentwickelt?
Büchele: Einführende Experimentierkästen aus den Bereichen Chemie und Physik sind heute stärker thematisch gestaltet. Die Grundprinzipien der Mechanik werden zum Beispiel mit einem programmierbaren Roboterarm erklärt. So fließen auch neue Themen wie Programmiersprachen und künstliche Intelligenz in die Experimentierkästen ein. Bei Experimentierkästen rund um Pflanzen steht vor allem das Thema Nachhaltigkeit im Fokus. Unser Anspruch ist es, solche wichtigen Grundlagen zu vermitteln, nur eben praktischer und anders als im Schulbuch.
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Mit diesem alten Experimentierkasten ließen sich 80 Versuche mit einem Radio machen.
© Quelle: Kosmos Verlag
Gibt es Experimente, die heute nicht mehr möglich sind, zum Beispiel aus Sicherheitsbedenken?
Büchele: Heute gibt es anders als vor 100 Jahren eine strenge Norm für Spielzeuge und ihre Sicherheit. Jeder unserer Experimentierkästen muss die entsprechenden Vorgaben erfüllen, egal, ob er nun mechanische Elemente oder chemische Lösungen enthält. Einen Chemieexperimentierkasten aus den 1980er-Jahren könnten wir heute nicht mehr auf den Markt bringen. Das ist auch gut so, immerhin wissen wir heute viel mehr über die Inhalte bestimmter Stoffe und ihre Gefahr für unsere Gesundheit.
Köthe: Jeder Chemiebaukasten ist heute harmloser als unsere Reinigungsmittel im Haushalt. Ein gutes Beispiel dafür ist das Phenolphthalein. Das ist ein chemischer Indikator, der in jeder Apotheke zu bekommen ist. In basischen Lösungen wird er rot, in sauren bleibt er farblos. Für die Experimente braucht man nur winzige Mengen und dann ist der Stoff auch nicht gefährlich. Schluckt man aber größere Mengen, können Vergiftungserscheinungen auftreten. Außerdem gilt er in großen Mengen inzwischen als krebserregend. Deshalb wurde seine Zulassung für Experimentierkästen gestrichen.
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Dr. Rainer Köthe studierte Chemie, Physik und Biochemie und ist Entwickler der Kosmos-Experimentierkästen.
© Quelle: Kosmos Verlag
Erschwert Sicherheit die Entwicklung? Immerhin wünschen sich Kinder gerade bei chemischen Experimenten Peng und Puff.
Köthe: Für mich als Entwickler ist es Herausforderung und Segen in einem. Ich bin immer auf der Suche nach guten Alternativen für meine Experimente. Zum Beispiel habe ich viel mit Lebensmittelfarben als Ersatz für chemische Färbungen experimentiert. Auch Kristalle oder Schleim lassen sich mit neuen, harmlosen Stoffen herstellen. Man muss einfach nur etwas herumprobieren, kreativ werden. Das macht mir großen Spaß. In Sachen Technik wachsen dagegen eher meine Möglichkeiten. Früher war ein blinkendes Lämpchen im Elektrokasten schon das Höchste der Gefühle, heute kann ich schon mit kleinen Bauteilen Licht und Geräusche erzeugen oder ganze Roboter zusammenbauen.
Hat sich die Zielgruppe verändert?
Köthe: Das Interesse und Bewusstsein für Forschung und Naturwissenschaften beginnt heute viel früher, schon in der Kita und in der Grundschule gibt es Forscherräume. Das ist eine tolle Entwicklung, immerhin sind Kinder in diesem Alter sehr begeisterungsfähig und wissbegierig. Heute gibt es deshalb auch Experimentierkästen für Jüngere. Die sind kleiner, spielerischer gestaltet und enthalten weniger Versuche, ermöglichen dafür aber mehr freie Erfahrungen mit den Materialien.
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Das Bild zeigt einen alten Kosmos-Physikexperimentierkasten.
© Quelle: Kosmos Verlag
Büchele: Außerdem waren die ursprüngliche Zielgruppe der Experimentierkästen überwiegend Jungs. Heute versuchen wir, mit allen Kästen beide Geschlechter anzusprechen. Außerdem haben wir mit der Pepper Mint eine Reihe geschaffen, die bewusst Naturwissenschaften mit einer jungen Forscherin als Heldin vermittelt. Natürlich spielt hier auch der Wunsch, Mädchen für Naturwissenschaften zu begeistern, eine Rolle. Dabei geht es nicht um Kosmetik oder Kristalle, sondern Marserkundung oder die Energie der Sonne.