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DIW-Präsident Fratzscher zur Kindergrundsicherung

„Kinderarmut ist ein Scheitern der Gesellschaft“

Kann die Kindergrundsicherung wirklich dabei helfen, Kinder aus der Armut in die Mitte der Gesellschaft zu holen? Führende Ökonomen sind skeptisch.

Kann die Kindergrundsicherung wirklich dabei helfen, Kinder aus der Armut in die Mitte der Gesellschaft zu holen? Führende Ökonomen sind skeptisch.

Herr Prof. Fratzscher, was bedeutet es für Kinder, in Armut aufzuwachsen?

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Armut bedeutet fehlende Teilhabe und fehlende Chancen. Relative Armut, von der wir in Deutschland sprechen, bedeutet, wenig finanzielle Mittel zu haben, die aber notwendig sind, um Dinge zu tun, die andere Kinder und Jugendliche als normal erachten – also an Ausflügen teilzunehmen, ins Kino zu gehen, Teil der Gemeinschaft zu sein.

Armut ist für viele Kinder ein Trauma und eine gesundheitliche Belastung, und zwar auch kurzfristig. Wir sehen, dass diese Kinder häufiger und in einer Art und Weise krank sind, die Chancen im Bildungssystem verschlechtern. Für diese Menschen bedeutet es auch als Erwachsene, weniger Chancen zu haben und häufiger in Armut zu landen. Selbst wenn man mal ein, zwei Jahre in Armut ist, merkt man das häufig ein Leben lang.

Beinahe jedes vierte Kind in Deutschland ist von Armut bedroht. Haben wir in Deutschland ein Problem mit Kinderarmut?

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Die Kinderarmut, egal, wie hoch sie ist, ist ein Problem. Es ist in gewisser Weise ein Scheitern der Gesellschaft. Was es in Deutschland noch mal katastrophaler macht, ist, dass die Kinderarmut im Vergleich zu Erwachsenen höher ist. Bei Erwachsenen liegt die Armutsquote zwischen 16 und 18 Prozent. Bei den Kindern sind es fast 25 Prozent. Und bei den Alleinerziehenden liegt die Quote bei 38 Prozent. Also fast vier von zehn alleinerziehenden Elternteilen leben in Armut, und die allermeisten davon sind Mütter. Und wir sehen, dass Menschen, die Migrationsgeschichte haben, die geflüchtet sind, besonders häufig in Armut leben. Das zeigt uns, dass es eben nicht individuelle Entscheidungen sind, die zu Armut führen, sondern strukturelle Probleme.

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Hat der Zuzug von Geflüchteten das Problem der Kinderarmut verschärft?

Statistisch gesehen ja, in der Realität nein. Unsere Definition von Armut bemisst sich am mittleren Einkommen. Wenn mehr Menschen dazukommen, die ärmer sind als jene, die bisher als arm gelten, verschiebt sich der Median. Das mittlere Einkommen ist also nicht mehr das gleiche. Daher sind manche deutsche Familien in den letzten Jahren statistisch aus der Armut herausgekommen. Aber nicht, weil sie mehr Geld, mehr Lebensqualität oder mehr Teilhabe haben. Sie rücken schlicht aus der statistischen Definition heraus.

Marcel Fratzscher ist Wissenschaftler, Autor und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Außerdem ist er u. a. Mitglied des High-level Advisory Board der Vereinten Nationen zu den nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) und Mitglied des Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums. 2022 ist sein aktuelles Buch „Geld oder Leben – Wie unser irrationales Verhältnis zum Geld unsere Gesellschaft spaltet“ erschienen.

Marcel Fratzscher ist Wissenschaftler, Autor und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Außerdem ist er u. a. Mitglied des High-level Advisory Board der Vereinten Nationen zu den nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) und Mitglied des Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums. 2022 ist sein aktuelles Buch „Geld oder Leben – Wie unser irrationales Verhältnis zum Geld unsere Gesellschaft spaltet“ erschienen.

Ein armes Kind ist ein armes Kind. Es darf keine Rolle spielen, welche Hautfarbe, welche Religion, welche Herkunft dieses Kind hat. Das macht die Verantwortung der Gesellschaft nicht geringer. Es ist doch offensichtlich, dass jemand, der geflüchtet ist, der sich um Kleinkinder kümmert, Hilfe benötigt. Denn jeder Monat, den ein Kind in Armut ist, schafft permanenten Schaden für die Betroffenen und für die Gesellschaft als Ganzes.

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Steuersystem schafft Fehlanreize

Warum haben wir überhaupt so eine hohe Kinderarmut?

Die wichtigste Ursache ist die Schwierigkeit, über gute Arbeit ein auskömmliches Einkommen zu haben. Hier wiederum liegt eine Ursache in der fehlenden Kinderbetreuung. Gerade bei Alleinerziehenden wäre das ein Schlüssel. Ein weiterer Schlüssel wären gute Löhne. Es sind ja nicht nur Arbeitslose und deren Kinder von Armut betroffen, sondern sehr viele Menschen, die zwar arbeiten, doch kommt zu wenig dabei herum.

Armut ist für viele Kinder ein Trauma und eine gesundheitliche Belastung, und zwar auch kurzfristig.

Und das steuerliche System schafft riesige Fehlanreize. Zum Beispiel Minijobs. Das sind ja nicht nur Studierende oder Rentner, die im Minijob arbeiten, sondern über zwei Millionen Menschen, die das im Haupterwerb tun und von den 520 Euro natürlich nicht leben können.

Ein weiterer Punkt ist die finanzielle Ausstattung. Die Leistungen, die der Staat Kindern in Armut gibt, sind sehr gering und in den letzten Jahren auch nicht besonders stark gestiegen.

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Die Kindergrundsicherung soll kommen. Wird das die Situation für Kinder verbessern?

Die Kindergrundsicherung ist ein sehr effektives Instrument, weil sie einen wirklichen Regimewechsel bedeutet. Durch die Zusammenführung verschiedener Leistungen können betroffene Eltern das Geld für ihre Kinder leichter erhalten. Was mich wirklich frustriert, ist, dass die Grundsicherung, so, wie sie jetzt ausgestaltet ist, für die meisten armutsbetroffenen Kinder erst einmal keine Verbesserung bedeutet.

Sie sagen erst einmal?

Ich glaube, Bundesfamilienministerin Lisa Paus ist eigentlich die große Gewinnerin in diesem Streit. Christian Lindner hat zwar durchgesetzt, dass die Kinder in Armut keinen einzigen Euro mehr kriegen. Aber in den nächsten Jahren wird sich über die Neuberechnung des soziokulturellen Minimums der Betrag deutlich steigern.

Meine Prognose ist, dass wir in vier Jahren eine Kindergrundsicherung haben, die mit dem Volumen bei deutlich über 10 Milliarden Euro liegen wird. Erstens, weil die Inanspruchnahme hoffentlich Richtung 90 Prozent und mehr geht. Zweitens, weil über diese Berechnungsgrundlage des soziokulturellen Existenzminimums wirklich mehr Geld dabei herumkommen wird. Daher schaue ich optimistisch in die Zukunft.

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Kinderarmut ist eine moralische Bankrotterklärung

Nicht alle befürworten die Kindergrundsicherung. Weil das Geld nicht bei den Kindern, sondern nur im Portmonee der Eltern landen könnte. Ist das nicht eine berechtigte Sorge?

Dies ist ein trauriges Bild und eines, das in einer solidarischen Gesellschaft nicht funktionieren kann. Die Grundsicherung ist ein Anspruch der Kinder und nicht der Eltern. Und es zeugt schon von extrem viel Zynismus, wenn man unterstellt, die Eltern wollten nicht das Beste für ihr Kind und würden gar das Geld für Trinken oder für Zigaretten oder für eigene Bedürfnisse nutzen. Ein Vorwurf, der übrigens auch von den Daten widerlegt wird.

Unsere Sozialsysteme waren bisher hauptsächlich reaktiv und passiv. Es muss also erst ein Schaden entstehen, bevor der Staat einspringt. Wir brauchen aber ein System, das viel stärker präventiv agiert.

Ebenso zynisch ist das Argument, statt auf die Kindergrundsicherung zu setzen, mehr Arbeitsmarktchancen schaffen zu wollen. Letztlich ist das ein Ablenkungsmanöver, das offenbart, dass jemand nicht versteht, was Kinderarmut wirklich bedeutet und welchen Schaden sie anrichtet.

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Was bedeutet die hohe Quote armutsgefährdeter Kinder für Deutschland?

Es ist ein Armutszeugnis und auch eine moralische Bankrotterklärung. Aber als Wissenschaftler, dessen Analysen auf Zahlen und Fakten beruhen, sehen wir, dass auch Gesellschaft und Staat einen enormen Schaden durch Kinderarmut davontragen.

Die OECD hat berechnet, dass ein Schaden in der Höhe von 3,4 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, also bei uns weit über 100 Milliarden Euro, entsteht. Die Sozial- und Gesundheitssysteme werden stärker belastet, weil arme Kinder häufiger krank sind und weil sie später als Erwachsene häufiger krank sind und selbst in Armut und Arbeitslosigkeit leben. Und das sind nur die finanziellen Kosten.

Es ist auch eine verpasste Chance für die Gesellschaft, gerade in Zeiten des Fachkräftemangels, in denen Unternehmen dringend nach Beschäftigten suchen. Unsere Studien zeigen, dass viele Arbeitslose erhebliche gesundheitliche Probleme oder auch Probleme bei der Qualifizierung haben. Sie sind aber nicht faul.

Braucht es bei der Bekämpfung von Kinderarmut neben neuer Rahmenbedingungen auch einen kulturellen Wandel?

Letztlich geht es ja um die Frage von Solidarität. Es geht darum, wie man die verletzlichsten Mitglieder einer Gesellschaft schützen und behandeln will. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem sowieso marginalisierte Gruppen unter Generalverdacht gestellt werden. Menschen, die arm sind, sind faul, die wollen nicht arbeiten, die wollen zulasten der Gesellschaft leben, die legen sich in die soziale Hängematte – das sind alles Zitate von bekannten Politikern. Da wird ein Bild des Schmarotzers gezeichnet.

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Aus wissenschaftlichen Studien wissen wir aber: Das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn es diese Menschen sicherlich gibt, so ist das eine sehr kleine Minderheit. Die allermeisten Menschen wollen Teil der Gesellschaft sein, wollen arbeiten, weil Arbeit sinnstiftend ist. Sie wollen für sich selbst und gerade für ihre Kinder sorgen können.

Hier geht es also um das Menschenbild, über das wir sprechen. Und darüber brauchen wir einen gesellschaftlichen Dialog. Wenn wir wirklich glauben, unsere Gesellschaft besteht nur aus Verteilungskämpfen, werden wir das Problem nicht beheben, und die Gesellschaft als Ganzes wird großen Schaden nehmen.

Der zweite grundsätzliche Punkt ist die Frage, wie wir unsere Sozialsysteme gestalten wollen. Unsere Sozialsysteme waren bisher hauptsächlich reaktiv und passiv. Es muss also erst ein Schaden entstehen, bevor der Staat einspringt. Wir brauchen aber ein System, das viel stärker präventiv agiert. Also die Frage behandelt: Wie können wir einen Schaden, wie Armut, Arbeitslosigkeit oder Krankheit, verhindern?

Was mich aber wirklich frustriert, ist, dass die Grundsicherung, so wie sie jetzt ausgestaltet ist, für die meisten armutsbetroffenen Kinder erst einmal keine Verbesserung bedeutet.

Diese Punkte müssen wir neu verhandeln. Vielleicht müssen wir uns aber auch nur bewusst werden, was mal unser Gesellschaftsvertrag war und was eigentlich eine soziale Marktwirtschaft beinhaltet.

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Investition in junge Menschen rechnet sich erst langfristig

Wenn Sie recht behalten, die Kindergrundsicherung greift und in ein paar Jahren die Kinderarmut tatsächlich sinken könnte, was würde das für Deutschland bedeuten?

Wirtschaftlich gesehen würden wir langfristig die Vorteile sehen. Wir werden mehr Fachkräfte haben, weniger Menschen mit gesundheitlichen Problemen und weniger Arbeitslosigkeit. Das Problem bei der Investition in junge Menschen ist aber, dass es kurzfristig teuer ist und sich nur sehr langfristig rechnet. Und langfristig heißt zehn, 20, 30 Jahre. Dabei machen mir die Konflikte und Verteilungskämpfe viel größere Sorgen als die kurzfristigen Kosten. Denn die kann sich unsere Gesellschaft sehr wohl sehr gut leisten.

Der Gedanke ist aber auch, den Kindern keinen immensen Schuldenberg zu hinterlassen. Ist das so falsch?

Na ja, Schulden sind für Kinder erst mal irrelevant. Die Frage ist ja, was die Schulden bedeuten. Und sie bedeuten, dass man in Zukunft etwas mehr an Steuern zahlen muss, um diese Schulden zu bedienen. Tatsächlich zahlt der Staat nur einen sehr kleinen Teil seiner Wirtschaftsleistung an Zinsen auf diese Schulden.

Auf der anderen Seite sehen wir aber den Nutzen für sie, wenn der Staat zum Beispiel in Bildung investiert. Denn ein gutes Bildungssystem bedeutet, mehr Chancen und bessere Jobs zu haben und damit im globalen Wettbewerb mithalten zu können. Das ist gut für die künftigen Generationen und es ist gut für den Staat. Für jeden Euro, den der Staat für frühkindliche Bildung ausgibt, kommen langfristig 2 bis 3 Euro in Form von höheren Steuereinnahmen zurück.

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Wir haben in Deutschland aber diese Obsession mit „Schulden sind schlecht und Sparen ist gut“. Dabei ist aber immer die entscheidende Frage: Wofür macht der Staat Schulden? Zukunftsinvestitionen in Menschen sind die besten Schulden, die ein Staat machen kann.


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