„Wild Child“-Autorin: „Kinder sollten nicht immer ihren Willen kriegen“
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In der Autonomiephase werden Kinder schon einmal lauter.
© Quelle: Snapwire/Pexels
Schreien, toben, um sich schlagen: Kleinkinder in der Autonomiephase können Eltern an den Rand der Verzweiflung bringen. Zur Last fallen wollen die Mädchen und Jungen ihren Eltern aber nicht, schreiben die Kommunikationswissenschaftlerin Stella Bongertz und die Pädagogin Eliane Retz in ihrem Ratgeber-Bestseller „Wild Child“. Im RND-Interview erzählt Bongertz, die in Schweden lebt, wie Schuhe an störrische Kinderfüße kommen und was deutsche Eltern von skandinavischen Müttern und Vätern lernen können.
Ihr Buch heißt „Wild Child“. Bekommen Eltern nach der Lektüre plötzlich handzahme Kinder?
Nein. Denn uns geht es gar nicht darum, wilde Kinder zu zähmen. Stattdessen soll das Buch helfen, zu verstehen, warum Kinder wild sind. Mit wild sind von uns nicht nur gefühlsstarke Kinder gemeint, die sich wild benehmen. Wir meinen den Begriff ganz ursprünglich. Auch ein junges Reh ist wild. Es verhält sich, wie es ihm die Evolution mitgegeben hat.
So ist es auch bei den Kindern. Sie sind nicht wild, um den Eltern zur Last zu fallen, sondern weil sie ihrem inneren Programm folgen. Sie müssen Autonomie anstreben. Darum wollen sie auch alles selbst machen, selbst wenn es nicht klappt.
Es geht also nicht darum, die Kinder einfach wild sein zu lassen?
Erziehung ist das Lernen am Beispiel. Sie gibt Orientierung. Der Begriff „Erziehung“ klingt unglücklich, als würde man das Kind in eine Richtung ziehen. Aber wir sehen die Erziehung mehr wie ein Gerüst, an das sich das Kind anlehnen kann. Wie bei einer Pflanze. Statt an der Pflanze zu ziehen oder sie zu stutzen, damit sie so wächst, wie wir uns das wünschen, gibt man ihr Hilfestellung. Kinder brauchen dieses Gerüst, sonst fehlt ihnen der Halt.
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Christiane Stella Bongertz ist Kommunikationswissenschaftlerin und Mitautorin des Bestsellers „Wild Child“.
© Quelle: Johan Bävman
Im Untertitel Ihres Buches steht „Kleinkinder gelassen erziehen“. Kann das im stressigen Alltag funktionieren?
Es klappt sicher nicht immer und auf Anhieb, gelassen zu bleiben. Aber wir wollen Eltern mit unserem Buch helfen, diese Gelassenheit leichter in sich zu finden. Das gelingt zum einen durch Wissen darüber, was mit dem Kind los ist, und daraus erwachsendes Verständnis. Und zum anderen durch hilfreiche Strategien. Hier geben wir viele Impulse für typische Situationen. Durch Aufregen löst man das Problem jedenfalls nicht.
Welche Strategien schlagen Sie vor?
Zunächst ist es wichtig zu verstehen, was gerade mit dem Kind passiert und warum. Ein Beispiel: Wenn es barfuß bleiben möchte, ist es vermutlich gerade drinnen. Dort ist es warm. Es kann sich gar nicht vorstellen, dass es draußen anders ist. In dem Alter kann es das aufgrund der Gehirnentwicklung noch nicht. Erst ab etwa dem vierten Geburtstag funktioniert das besser. Kinder sind im Moment. Etwas, das wir ja eigentlich alle mit diesem Achtsamkeitsthema anstreben. Vor dem Hintergrund ist das Verhalten des Kindes angemessen. Es will ja nichts Böses. Es will nur die Schuhe nicht anziehen.
Und wie kommen die Schuhe trotzdem ans Kind?
Wer aber in fünf Minuten in der Kita sein muss, hat keine Zeit, sich etwas Kreatives auszudenken.
Man kann beispielsweise einfach mal barfuß rausgehen. Dann merkt das Kind in der Regel relativ schnell, dass es doch ein bisschen kühl ist. Es ist auch hilfreich, mehr Zeit einzuplanen, vielleicht noch ein bisschen früher aufzustehen. Damit man mehr Raum dafür hat, gelassen zu reagieren. Es kann auch helfen, schon abends beim gemeinsamen Blick auf die Wetter-App zwei Paar Schuhe zur Auswahl bereitzustellen. So bekommt das Kind das Gefühl: Ich darf mitbestimmen, meine Meinung zählt. Das stärkt die Bindung und ist sehr motivierend. Wer aber in fünf Minuten in der Kita sein muss, hat keine Zeit, sich etwas Kreatives auszudenken.
Sie leben in Schweden. Was können sich deutsche Eltern von den Skandinaviern und Skandinavierinnen abgucken?
Es ist naheliegend, aber tatsächlich würde ich sagen: die Gelassenheit. Schwedische Eltern pressen ihre Kinder nicht in so ein enges Erwartungsschema. In Deutschland müssen Kinder vor allen Dingen funktionieren und sich anpassen. Das ist natürlich leicht gesagt, denn hier in Schweden hat man als Gesellschaft auch einfach mehr Verständnis für Kinder. Es ist beispielsweise nicht so, dass Mütter oder Väter sofort streng beäugt werden, sobald sie mit Kindern in ein Café kommen. Dadurch haben sie es leichter, ihren Kindern mehr Freiräume zu erlauben.
Laufen Eltern, die ständig die Bedürfnisse ihrer Kinder und die Bindung zu ihnen im Blick haben wollen, nicht Gefahr, sich selbst aufzugeben?
Bindungsorientierung bedeutet, dass die Bindung nicht abreißt — und zwar auch nicht in Konfliktsituationen. Es geht darum, eine stabile Bindung aufzubauen, die dann auch Konflikte aushält. Dass man dem Kind auch in so einer Situation, in der man nicht einer Meinung ist, signalisiert: Ich hab dich trotzdem lieb. Das bedeutet aber nicht, dass es immer seinen Willen kriegen soll. Als Elternteil sollte ich abwägen: Ist es jetzt wirklich wichtig, dass ich mich durchsetze? Wenn das Kind beispielsweise im Froschkostüm in den Kindergarten möchte, spricht – wenn man ehrlich ist – meist wenig dagegen. So what? Hat aber das Kind schon zu viel Süßes gegessen, spricht einiges gegen das begehrte Eis im Supermarkt. (Anmerkung der Redaktion: Wir haben diese Antwort auf Wunsch der Interviewpartnerin im Nachhinein präzisiert und ergänzt, um Missverständnissen vorzubeugen.)
Eltern wollen ihre Kinder aber auch nicht enttäuschen.
Wenn ich als Kind mit meiner Mutter spielen wollte, hat sie oft so etwas gesagt wie: „Na gut, ausnahmsweise.“ Sie hat mir dabei signalisiert, dass sie eigentlich keine Lust dazu hatte. Dadurch hat diese Gemeinsamkeit, die ich mir gewünscht hatte, keinen Spaß mehr gemacht. Ich hatte die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen und ein Schuldgefühl, weil ich ihr zur Last falle. Auch wenn sie das ja gemacht hat, was ich wollte, habe ich das als sehr belastend in Erinnerung.
Das heißt, Kinder durchschauen uns eigentlich schon sehr gut?
Ja. Und deswegen habe ich mir immer vorgenommen, dass ich das so nie machen möchte. Im Nachhinein hätte ich mir gewünscht, dass meine Mutter ihre Grenzen klar definiert und dafür dann, wenn sie Lust hat, mit ganzem Herzen dabei ist. Das gilt nicht nur für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, das gilt ja auch für Partnerschaften oder Freundschaften.
Sie schreiben von den „Gut-genug-Eltern“. Wann ist man denn gut genug?
Gut genug sind Eltern, die es versuchen. Es geht um die Haltung, und man versucht es immer wieder. Niemand kann immer perfekt sein. Gut genug bedeutet auch, gnädig mit sich zu sein, wenn etwas schiefgegangen ist.
Also etwa, wenn es doch nichts geworden ist mit der Gelassenheit?
Zum Beispiel, ja. Wenn man sich vornimmt, nicht zu schimpfen, und dann hat man eben doch geschimpft. Sich lange mit Schuldgefühlen aufzuhalten bringt da gar nichts. Zumal man in diesem Moment dann ja gar nicht fürs Kind verfügbar ist. Wenn man aber zu sich sagt: „Shit happens!“, dann kann man sich auch beim Kind entschuldigen. Inzwischen erlebe ich das selbst mit meiner Tochter. Wenn ich etwas Blödes gemacht habe und ihr sage: „Tut mir leid!“, kommt von ihr meist nur ein „Ja, schon gut!“ Die Kinder lernen dadurch, dass ihre Eltern auch nur Menschen sind.
Kinder begreifen schon, dass etwas eine Regel sein sollte, genauso, wie sie Ausnahmen begreifen.
Müssen Eltern immer konsequent sein?
Nein. Es geht sowieso nicht. Das Leben ist ja auch inkonsequent. Es gibt immer Ausnahmen von irgendwas. Und häufig ist es ja auch so, dass ein Elternteil konsequenter ist als der andere. Kinder begreifen schon, dass etwas eine Regel sein sollte, genauso, wie sie Ausnahmen begreifen.
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Die Autorinnen Christiane Stella Bongertz und Eliane Retz haben den Bestseller „Wild Child" geschrieben. Das Sachbuch ist im Piper-Verlag erschienen. Es kostet 18 Euro und umfasst 384 Seiten.
© Quelle: Piper Verlag
Kinder brauchen also keine Grenzen, die gesetzt werden, sondern Erwachsene, die ihre eigenen Grenzen spüren?
Ja. Grenzen sind wichtig, wenn sie begründet sind. Willkürliche Grenzen sind daher Quatsch. Ziehen wir aber unsere eigene Grenze, weil sie ein Grundbedürfnis von uns markieren, dann ist das glaubwürdig. Und je glaubwürdiger eine Grenze ist, desto begreiflicher ist sie für das Kind. Ein Beispiel: Will mein zweijähriges Kind die Süßigkeiten im Supermarkt, wird es einen langen Vortrag über zuckerhaltige Nahrung nicht kapieren. Es begreift aber, wenn ich mich zu ihm hinhocke, also auf Augenhöhe gehe, und liebevoll sage: „Ich verstehe, dass du das jetzt haben möchtest. Aber es ist nicht gesund für dich. Und ich möchte, dass es dir gut geht.“ Es versteht vielleicht nicht jedes Wort, aber es versteht, auch nonverbal, dass ich einen guten Grund habe.
Ich muss jetzt gar nichts tun, außer da zu sein.
Dann wird es aber den Schokoriegel im Zweifel trotzdem wollen.
Natürlich. Und es kann sich trotzdem noch aufregen, weil es noch nicht die Impulskontrolle hat wie wir Erwachsene. Kinder können sich nicht einfach dazu entscheiden, das jetzt einzusehen und aufzuhören, sich auf den Boden zu schmeißen. Es muss in dem Moment dann einfach raus. Erst ab ungefähr vier Jahren ändert sich das langsam.
Aber das zu wissen, nimmt sofort Stress raus, weil man weiß: Ich muss jetzt gar nichts tun, außer da zu sein – mein Kind verhält sich nur seiner Entwicklung entsprechend.