Covid-19-Tote: Amtliche Zahl erklärt Übersterblichkeit nur zum Teil
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Pflegekräfte betreuen auf der Intensivstation des Universitätsklinikums in Greifswald einen Covid-19-Patienten.
© Quelle: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dp
Wiesbaden. Wenig wird derzeit so emotional diskutiert wie die Frage, ob Corona-Tote an oder mit dem Virus gestorben sind. Für letzteres spräche, dass die meisten Corona-Tote sehr alt sind und die Betroffenen möglicherweise auch ohne Pandemie gestorben wären. Nach dieser Lesart dürfte es insgesamt kaum mehr Tote geben als in einem Jahr ohne Corona. Dem widersprechen jedoch neue Zahlen des Statistischen Bundesamts, die in Deutschland eine Übersterblichkeit seit Herbst zeigen. Demnach hat die zweite Welle der Pandemie in jeder Woche seit November 2020 zu teilweise deutlich mehr Toten geführt als im Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019 in diesem Zeitraum.
Der Durchschnitt der Vorjahre ist allerdings nur eine grobe Annäherung an die Zahl der Toten, die in Deutschland ohne die Corona-Pandemie zu erwarten gewesen wäre. Beispielsweise führt die Alterung der Bevölkerung dazu, dass auch weitere Einflussfaktoren die Sterblichkeit allmählich steigt. Doch dieser Effekt vollzieht sich schleichend und wird von anderen Effekten wie der steigenden Lebenserwartung abgemildert. Außerdem gab es auch in früheren Jahren Phasen der Übersterblichkeit, beispielsweise während der Grippewelle 2018. Es liegt also nahe, dass der Anstieg der Sterbezahlen 2020 und 2021 zum großen Teil mit der Corona-Pandemie zusammenhängt.
Wie die Grafik oben zeigt, verlief die erste Welle im Frühjahr relativ glimpflich. In der Spitze wurden pro Woche 1737 Tote in Verbindung mit Covid-19 gemeldet. In dieser Zeit hebt sich die obere rote Kurve um ziemlich genau diesen Wert von der Durchschnittskurve der Vorjahre ab. Im Sommer 2020 steigt die Kurve wie üblich wegen der Sommerhitze. Ein Höchstwert von rund 2000 zusätzlichen Todesopfern pro Woche sind auf diesen Effekt zurückzuführen. Tote durch das Coronavirus gab es in dieser Zeit kaum. Das änderte sich mit Beginn des Herbstes und gipfelte in einem Höchststand von mehr als 5000 Toten pro Woche. In ähnlichem Umfang stieg auch die Zahl der insgesamt Verstorbenen an. Zuletzt war die Zahl der Toten wieder leicht rückläufig, die Zeitreihe des Statistischen Bundesamts endet allerdings in der ersten Kalenderwoche 2021.
Hälfte der Übersterblichkeit in Sachsen unerklärt
Wählt man in der Grafik oben die einzelnen Bundesländer aus, zeigt sich das beschriebene Muster in Variationen. In den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen hebt sich die Kurve, die anzeigt wie viele Menschen 2020 gestorben sind, gegen Ende des Jahres wenig bis kaum vom Durchschnitt der Vorjahre ab. Auch die norddeutschen Flächenländer Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen verzeichnen eine relativ geringe Übersterblichkeit wegen Corona. Etwas deutlicher ist die Abweichung beispielsweise in Bayern und Hessen. Den steilsten Anstieg der Sterblichkeit haben die ostdeutschen Länder Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und insbesondere Sachsen zu verkraften. In Sachsen hat sich die Zahl der wöchentlichen Todesfälle sogar mehr als verdoppelt. Hatte der Freistaat in den Jahren 2016 bis 2019 in der Regel 1000 Tote pro Woche, so kletterte der Wert zum Ende des Jahre 2020 auf fast 2500 Fälle. Die Zahl der Covid-19-Toten ist allerdings nicht im selben Maß angestiegen. Der Höchstwert der Corona-Sterbefälle in einer Woche betrug im Dezember etwas mehr als 800. Der Anstieg der Todeszahlen insgesamt gegenüber dem Normalwert war aber etwa doppelt so groß. Die offizielle Zahl der Corona-Toten kann die Übersterblichkeit in Sachsen also nur zur Hälfte erklären. Auch in Brandenburg und Thüringen geht die erhöhte Zahl der insgesamt Verstorbenen über die Covid-19-Sterbezahlen hinaus, wenn auch weniger als in Sachsen.
Corona-Todesfallzahlen womöglich zu niedrig
Theoretisch kommen viele Erklärungen für diese Diskrepanz in Betracht, denn die genauen Todesursachen lassen sich mit Ausnahme von Covid-19 nicht der Statistik entnehmen. Denkbar wäre, dass Erkrankte wegen der Pandemie den Gang zum Arzt scheuen und deshalb mehr Menschen sterben. Ebenfalls möglich wäre, dass die Krankenhäuser so stark mit den Covid-19-Patienten beschäftigt waren, dass andere Erkrankungen vernachlässigt wurden. Doch laut sächsischem Sozialministerium konnten trotz der angespannten Situation auf den Intensivstationen alle Patienten adäquat behandelt werden. In einigen Fällen sind wegen Engpässen Krankenhäuser in anderen Bundesländern eingesprungen.
Aufklärung von den Behörden verlangt
Wenn die Nebeneffekte der Corona-Maßnahmen nicht der Grund für die hohen Sterbezahlen sind, bliebe als Erklärung, dass mehr Menschen an Corona gestorben sind als bislang bekannt. Felix zur Nieden, Experte für Übersterblichkeit beim Statistischen Bundesamt, hält dies für wahrscheinlich: „In der Hochphase kann es sein, dass die offiziellen Corona-Todesfallzahlen zu niedrig sind. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass man mit den Tests nicht hinterherkommt.”
Forscher der Ludwig-Maximilians-Universität München haben sich ebenfalls mit dieser Frage beschäftigt. In einer Analyse schreiben die Statistiker und Epidemiologen: „Etwa die Hälfte der zur Zeit beobachteten Übersterblichkeit in Sachsen kann nicht direkt mit einer registrierten Covid-19-Erkrankung in Verbindung gebracht werden. Dieses Ergebnis überrascht und verlangt nach weiteren differenzierteren Analysen vonseiten der statistischen Landesbehörden, ob und warum in Sachsen eine extreme nicht Covid-19-bedingte Übersterblichkeit besteht, oder ob diese durch fehlende Post-mortem-Tests, falsch ausgestellte Todesursachen, reine Datenfehler oder anderweitig begründet werden kann.”
Dass die bisher erklärte Übersterblichkeit mit der Pandemie zu tun hat, liegt nahe. Denn die Erreger, die bislang im Winter zu einer Übersterblichkeit beitrugen – Influenzaviren, zum Beispiel – kursieren dank Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln gerade kaum.