Dem Virus den Weg abschneiden: Warum in Corona-Hotspots auch eine Chance liegt
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Firmengebäude in Rheda-Wiedenbrück.
© Quelle: imago images/MiS
Die Nachricht ist erschütternd, das Muster aber ist bekannt: wieder ein Fleischbetrieb. Wieder bahnte sich das Virus scheinbar ungehindert seinen Weg durch die Reihen der Mitarbeiter. Mehr als 650 sind es, die sich jetzt bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück infiziert haben.
Er habe die Schließung des Betriebs angeordnet, sagte Sven-Georg Adenauer, Landrat des Kreises Gütersloh, am Nachmittag in einer Pressekonferenz. Schulen und Kitas im Kreis, gerade erst wieder geöffnet, werden nun wieder geschlossen – bis zu den Sommerferien.
Schon jetzt ist der Corona-Ausbruch von Rheda-Wiedenbrück der größte seit der Lockerung der Corona-Maßnahmen. Doch so deprimierend das Ausmaß ist: Eine Überraschung ist es nicht. Erst im Mai hatten sich in einem Fleischbetrieb in Coesfeld mehr als 200 Mitarbeiter mit dem Virus angesteckt.
Ein Virus mit Schwachstelle
Tatsächlich legt der Ausbruch zweierlei offen: sozialpolitisch die oft unwürdigen, mindestens aber gesundheitsgefährdenden Arbeits- und Lebensbedingungen in der Fleischindustrie. Und seuchenpolitisch die Besonderheit des Virus, sich nicht gleichmäßig, sondern unter bestimmten Umständen geradezu explosionsartig zu verbreiten. In dieser Eigenart liegt eine Gefahr, weil sie binnen kurzer Zeit für extrem hohe Infektionszahlen sorgen kann. Gleichzeitig liegt für Behörden und uns alle darin eine Chance – weil sie eine Schwachstelle offenbart, an der das Virus angreifbar ist: Ohne Masse verliert Sars-CoV-2 schnell an Macht.
Was aber heißt das für unseren Umgang mit der Pandemie? Ein knappes halbes Jahr nach den ersten Meldungen aus China über ein mysteriöses neuartiges Lungenvirus gibt es in Deutschland einen neuen Alltag aus sehr eigenartigen Gegensätzen: Da fliegen die einen wieder nach Mallorca, trainieren in Fitnessstudios oder demonstrieren im Pulk, während auf der anderen Seite immer neue einzelne Ausbrüche dazu führen, dass ganze Wohnblocks unter Quarantäne gestellt werden, Sportvereine nicht mehr trainieren dürfen und Schüler wieder zu Hause bleiben.
Die Hotspots der Infektionen sind gerade Mietshäuser in Berlin-Neukölln (mit 70 Infizierten) und ein Spargelhof im bayerischen Landkreis Aichach-Friedberg (mit 95 Infizierten). Davor waren es ein Hochhaus in Göttingen, Kirchengemeinden in Frankfurt und Bremerhaven und ein Restaurant in Leer. Die neue Corona-Entspanntheit und diese schweren Ausbrüche – passt das irgendwie zusammen?
Für die Ausbrüche kommen mehrere Risikofaktoren zusammen
Klar ist, dass bei all diesen Ausbrüchen mehrere Risikofaktoren zusammenkamen: fehlender Abstand, geschlossene Räume, gemeinsamer Gesang oder lebhafte Gespräche im großen Kreis. Besondere Formen von Sorglosigkeit paarten sich mit der Fähigkeit des Virus, sich unter bestimmten Umständen sprunghaft zu verbreiten. Obwohl sich weltweit so viele Forscher wie vielleicht noch nie mit einem Virus beschäftigen, gibt es noch immer gewaltige Wissenslücken: Warum erkranken die einen schwer, die anderen kaum? Was sind die Langzeitfolgen? Wie ansteckend sind Kinder wirklich?
Die Wissenschaft hat aber in diesem halben Jahr auch enorm viel gelernt – und sich immer wieder korrigiert: Masken sind offenbar weit wirksamer als anfangs gedacht. Covid-19 ist keine reine Lungenkrankheit, sondern befällt auch andere Organe und richtet in Gefäßen teilweise schwerste Schäden an. Aerosole – kleinste Tröpfchen mit Viren, die lange in der Luft schweben können – sind für die Verbreitung offenbar viel wichtiger als die Schmierinfektionen über Oberflächen.
Für die Prävention ist aber vor allem eine Erkenntnis zentral: dass sich das Virus besonders über sogenannte Superspreading-Events verbreitet, also über Ereignisse, bei denen wenige Infizierte das Virus massenhaft verteilen können. Die zweite Welle muss nicht sein. In Deutschland hat man das Phänomen früh beobachten können, als eine Karnevalsfeier in Gangelt im Kreis Heinsberg oder ein Starkbierfest in Tirschenreuth so verheerende Folgen hatten. Inzwischen nun bestätigen immer mehr Studien die ersten Beobachtungen. So hat zuletzt eine Arbeitsgruppe der israelischen Universität Tel Aviv herausgefunden, dass eine kleine Gruppe von höchstens 10 Prozent der Infizierten für rund 80 Prozent der Infektionen verantwortlich ist.
Die zweite Welle kommt nicht als “Naturgewalt”
Es ist also nicht so, dass jeder Infizierte im Schnitt eine weitere Person ansteckt, wie es der viel beachtete und umstrittene Reproduktionsfaktor suggeriert, wenn er bei etwa eins liegt. Tatsächlich stecken offenbar viele Erkrankte niemanden an – und einige wenige viele. Ob das etwas mit der Person zu tun hat, mit einer vielleicht besonders hohen Virusmenge im Rachen, oder allein mit den Umständen, mit besonders vielen Kontakten auf engem Raum also, auch das ist noch nicht ganz klar. Klar ist aber, was es für den Umgang mit dem Virus bedeutet und für die Vermeidung einer zweiten Welle.
“Es liegt an uns”, sagte Christian Drosten, Chefvirologe der Charité, in der jüngsten Folge seines Podcasts im NDR. Eine zweite Welle sei jedenfalls “keine Naturgewalt, die da über uns kommt”. Sie lässt sich verhindern, wenn man die richtigen Schlüsse zieht. Hat Tönnies das getan?
Bereits im Mai, nach dem Ausbruch in einem Fleischbetrieb in Coesfeld, waren auch die Mitarbeiter von Tönnies getestet worden, auf Anordnung der Behörden. Damals seien aber kaum Fälle aufgefallen. Den jetzigen Ausbruch erklärt sich das Unternehmen damit, dass Arbeiter das Virus nach dem Urlaub in ihren Heimatländern in Osteuropa, meist Rumänien und Bulgarien, eingeschleppt hätten – und mit der Kühlung in der Schweinezerlegerei, die die Ausbreitung begünstige.
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet macht sich die Sichtweise des Unternehmens umgehend zu eigen – auch in der Verteidigung der eigenen Corona-Politik: Der Vorfall sage “nichts über Lockerungen aus, weil Rumänen und Bulgaren eingereist sind und da das Virus herkommt”. “Wir können uns nur entschuldigen”, sagt ein Tönnies-Sprecher.
Man habe intensiv versucht, das Virus aus dem Betrieb herauszuhalten. Fragen bleiben: Welche Vorsichtsmaßnahmen gab es im Betrieb? Gab es eine oder mehrere Personen, die das Virus eingetragen haben, mehrere “Patienten null” also? Fest steht bislang nur die Wucht dieses Ausbruchs. Dabei ist das “Superspreading” im Grunde nicht nur eine Chance für das Virus, sondern auch eine Gefahr: Es macht es verwundbar für vergleichsweise einfache Maßnahmen.
Das Virus könnte sich auch totlaufen
“Wenn Superspreading-Ereignisse diesen Ausbruch befeuern, dann können wir diese Ungleichheit in der Übertragung nutzen”, schreibt Benjamin Althouse von der University of Washington in Seattle – um gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen und bestimmte Orte besonders zu überwachen und so künftige Superspreading-Ereignisse zu verhindern. Das einfache Mittel: die Zahl der Kontakte weiter begrenzen, etwa auf fünf, um Massenausbrüche zu verhindern. “Cutting the trail” nennt er diese Strategie, dem Virus “den Weg abschneiden”. Denn wer diese Superspreader-Ereignisse verhindert, unterbindet den effizientesten Weg der Übertragung.
Rein rechnerisch gäbe es sogar die Möglichkeit, dass sich das Virus dann gleichsam totläuft – so berechnen es jedenfalls Epidemiologen. Klar ist jedenfalls auch, welche Orte besonders überwacht und kontrolliert werden müssen: Dazu zählen die Wissenschaftler Gefängnisse, Obdachlosenunterkünfte, Krankenhäuser, aber auch Schulen oder Clubs – alle Orte, an denen viele Menschen zusammenkommen. Und eben auch Schlachthöfe.
Die Kapazitäten der Gesundheitsämter müssen ausreichen
Für die Wissenschaftler sind gerade diese Superspreading-Tendenzen das Argument, gewisse Begrenzungen für längere Zeit aufrechtzuerhalten – und so beim “Tanz mit dem Tiger”, wie diese Phase des In-Schach-Haltens des Virus in der Pandemiebekämpfung genannt wird, der Führende zu bleiben. Es gibt allerdings eine wichtige Bedingung dabei: dass die Kapazitäten der Gesundheitsämter ausreichen, um die weiter auftretenden Fälle nachzuzeichnen und dem Virus immer wieder den Weg abzuschneiden. Genau das müssen die Behörden in Gütersloh und im Kreis ringsum nun leisten.
Die Folgen bekommen schon jetzt viele Menschen in der Region zu spüren. Zwar will der Landrat einen kompletten Lockdown vorerst vermeiden; 7000 Tönnies-Mitarbeiter allerdings müssen jetzt in Quarantäne.