Ethikratchefin fordert Corona-Sicherheitsnetz: „Die Pandemie hört nicht plötzlich im Sommer auf“

Christiane Woopen ist die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates und sitzt im Corona-Expertenrat von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet.

Christiane Woopen ist die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates und sitzt im Corona-Expertenrat von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet.

Christiane Woopen kennt viele Ebenen des Pandemiemanagements. Als Vorsitzende des Europäischen Ethikrates ist sie auf europäischer Ebene vernetzt. Außerdem sitzt sie im Corona-Expertenrat von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und berät zu regionalen Strategien im Umgang mit dem Virus.

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Im RND-Interview fordert die Ethik- und Medizinprofessorin von der Universität Köln ein besseres „Sicherheitsnetz für Unwägbarkeiten“. Woopen spricht darüber, wieso Schnell- und Selbsttests in Deutschland erst so spät kommen, warum die Politik sich ihrer Ansicht nach nicht auf den Impfungen ausruhen könne – und warum eine zentrale Koordination die Antwort auf viele Probleme wäre.

Der Corona Newsletter "Die Pandemie und wir" vom RND.

Die Pandemie und wir

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Frau Woopen, wie beurteilen Sie den neuen Zugang zu Schnelltests für die Menschen in Deutschland?

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Ich habe mich sehr gefreut, als ich gehört habe, dass Schnelltests und Selbsttests breitflächig genutzt werden sollen. Das scheint mir ein sehr wichtiger Baustein im Pandemiemanagement zu sein. Es ist aber nicht der einzige. Der Zweischritt aus Impfen und Schnelltests reicht meines Erachtens nicht aus. Es braucht auch eine schnelle und umfassende Nachverfolgung von Infektionsketten. Wir müssen viel differenzierter verstehen lernen, wo die Infektionen stattfinden. Nur so können Schutzmaßnahmen weiterentwickelt und schnell an die aktuelle Situation angepasst werden.

Sie fordern also weitere Strategien neben dem Fokus auf Testen und Impfen?

Ich halte es für wichtig, ein Sicherheitsnetz für Unwägbarkeiten zu entwickeln. Das zeigt sich bereits jetzt. Das Impfen dauert beispielsweise länger als zunächst erwartet. Es tauchen Mutationen auf, die einigen Epidemiologen zufolge bereits als eigenständige weitere Pandemie zu betrachten sind. Möglicherweise wird eine Anpassung der Impfstoffe erforderlich. Es könnten sich zu wenig Menschen für eine Impfung entscheiden, sodass keine ausreichende Herdenimmunität eintritt. Es wird wohl auch so sein, dass in ein paar Monaten der Immunschutz bei Geimpften und Genesenen wieder nachlässt und neue Impfungen anstehen. All das zeigt doch, dass in einer Pandemie nichts wirklich garantiert ist.

Bessere Strukturen für weitere Pandemien

Stellen Sie sich darauf ein, dass die Corona-Pandemie noch für lange Zeit andauern wird?

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Aufmerksamkeit und Achtsamkeit sind auf derzeit nicht absehbare Zeit nötig. Es ist nicht zu erwarten, dass im Sommer plötzlich die Pandemie aufhört. Natürlich ist zu hoffen, dass der derzeitige Zustand nicht noch mehrere Jahre andauert. Wir dürfen aber auch nicht vergessen: Die Pandemie mit all ihren Folgen wird erst dann enden, wenn sie weltweit endet. Zudem ist damit zu rechnen, dass es eine nächste Pandemie geben wird. Deshalb ist es umso wichtiger, sich schon jetzt darauf vorzubereiten. Idealerweise werden in dieser Corona-Krise Strukturen und Prozesse aufgebaut, die dann sehr schnell wieder aktiviert und angepasst werden können. In dieser Pandemie wurde ja mehrfach sichtbar, dass die Vorbereitung auf so eine massive Bedrohung nicht gut war.

Die Schnellteststrategie ist da ein gutes Beispiel. Wie erklären Sie sich, dass es in Österreich schon länger Testangebote in Schulen gibt, während Deutschland noch die Infrastruktur dafür aufbaut?

Meine Vermutung ist, dass die Politik die Bedeutung von Tests viel zu lange nicht begriffen hat. Es wurde von Anfang an verstanden, dass Impfungen eine Lösung zum Stoppen der Pandemie wären. Deswegen ist sehr viel öffentliches Geld in die Entwicklung der Impfstoffe geflossen. Das war von Anfang an eine Toppriorität der staatlichen Förderung. Etwas vergleichbares war bei Tests nicht zu sehen.

Meinen Sie damit PCR-Tests, Schnelltests oder beides?

Man hat sich am Anfang der Pandemie bemüht, die PCR-Tests aus der Mangelsituation herauszuholen. Da gab es am Anfang enorme Schwierigkeiten, zum Beispiel die Reagenzien in ausreichender Menge zur Verfügung zu stellen. Ich habe aber nicht ansatzweise vergleichbare Bemühungen gesehen, Schnell- und Selbsttests zu einer Public-Health-Strategie auszubauen und zu fördern. Wäre das ein Ziel gewesen, hätte man viel mehr Geld in die Entwicklung und Produktion dieser Tests gesteckt. Deshalb ist auch der Satz „Schnelltests gibt es ja erst jetzt“ nur die halbe Wahrheit. Und selbst jetzt wird noch nicht erkannt, dass Schnell- und Selbsttests in eine Public-Health- und eine Kommunikationsstrategie eingebunden werden müssen, um mit den knappen Mitteln bestmöglich umzugehen.

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Corona-Schnelltests helfen – wenn viele mitmachen

Ein kostenloser Test pro Woche für alle Bürger ist als Angebot von Bund und Ländern bislang angedacht. Reicht das, um das Infektionsgeschehen spürbar zu bremsen?

Wenn man sich epidemiologische Modellrechnungen anschaut, wäre eine systematische, sich wiederholende Testung, bei der 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung bei drei bis fünf Tests pro Woche mitmachen, ein gutes Mittel, um die Inzidenz zu senken. Je mehr mitmachen und je häufiger getestet wird, umso schneller ist die Kurve unten – so die Faustregel.

Und wo genau sollten die Schnelltests und die vermehrte Nachverfolgung prioritär zum Einsatz kommen?

Wenn man aus guten Gründen sagt, die Kitas und Schulen müssen als erstes wieder geöffnet werden, dann müssen diese Tests genau an diese Orte. Wenn man Geschäfte wieder öffnet, dann bitte nur mit einer umfassenden Infektionsketten-Nachverfolgung. Also indem man sich mit einem QR-Code anmeldet und klar ist, dass wenn eine Person positiv ist, alle anderen über ihr eigenes Risiko informiert werden und sich in ihrem Verhalten danach richten. Nun werden die Schnelltests aber in die Discounter geschwemmt. Ich sehe zudem, dass die Menschen nicht ausreichend darüber aufgeklärt werden, was ein Testergebnis, sei es positiv oder negativ, bedeutet und wie damit umgegangen werden sollte.

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Richtig aufgeklärt und in eine Strategie eingebunden, könnten die Bürgerinnen und Bürger durch ihr Mitmachen einen aktiven Beitrag zur Pandemiebewältigung leisten, das motiviert weitaus mehr als weitgehend passiv bleiben zu sollen.

Haben Sie da konkrete Beispiele?

Die positiv getestete Person weiß vielleicht gar nicht, dass es einen PCR-Test zur Bestätigung braucht und wo es diesen auf die Schnelle gibt. Es kann auch die Sorge geben, das Ergebnis dem Arbeitgeber mitzuteilen, weil Nachteile befürchtet werden. Ein positives Testergebnis hat ja reale Folgen im Alltag. Und ein negatives Testergebnis bedeutet eben nicht, dass ich mich fröhlich so verhalten könnte, als gäbe es keine Pandemie.

Es kann auch sein, dass ein Test falsch negativ ist. Die anderen Hygienemaßnahmen sind also gleichwohl noch anzuwenden. So ein Test hat auch nur für ein paar Stunden eine gewisse Aussagekraft. Auf all diese Szenarien müssen die Menschen vorbereitet werden. Richtig aufgeklärt und in eine Strategie eingebunden, könnten die Bürgerinnen und Bürger durch ihr Mitmachen einen aktiven Beitrag zur Pandemiebewältigung leisten, das motiviert weitaus mehr als weitgehend passiv bleiben zu sollen.

Dritte Welle nicht von Bund-Länder-Strategie verhindert

Es wird jetzt alles weitgehend genauso wie vorher gemacht, es wird aber ein völlig anderes Ergebnis erhofft.

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Sie sind Mitglied im Expertenrat von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. Wie beurteilen Sie den bei der letzten gemeinsamen Konferenz zwischen Bund und Ländern vereinbarten Strategiewechsel?

Es ist offensichtlich, dass Öffnungen ohne zusätzliche Maßnahmen bei sowieso schon steigenden Infektionszahlen höchstwahrscheinlich zu einer dritten Welle führen. Die jetzige Strategie verhindert das nicht. Es wird jetzt alles weitgehend genauso wie vorher gemacht, es wird aber ein völlig anderes Ergebnis erhofft. Das ist völlig irrational und führt wahrscheinlich auch nicht zu der gewünschten Orientierung und Motivation für die Bevölkerung. Zum Glück gibt es wenigstens eine Art Notbremse.

Wofür spricht sich denn der NRW-Expertenrat aus?

Vor der letzten Ministerpräsidentenkonferenz haben wir empfohlen, die Öffnungsschritte nicht nach Branchen zu definieren, sondern an zusätzliche Schutzmaßnahmen und die ausreichende Verfügbarkeit von Schnelltests und Infektionsketten-Nachverfolgung zu koppeln. Das heißt: Erst dort, wo es die Schnelltests und die Infektionsketten-Nachverfolgung wirklich gibt, kann man aufmachen.

Dafür braucht es eine geeignete Plattform, die praktikabel für den Nutzer sein sollte, auf der die Gesundheitsämter alle Kontakte ohne zeitraubenden Aufwand zusammenführen und verfolgen können. Datenschutz und Sicherheit müssen dabei gewährleistet sein. Dann kann man auch schauen, was an Infektionen vor Ort in den verschiedenen Bereichen passiert, und die Maßnahmen auf das Infektionsgeschehen anpassen. Bislang gibt es vor allem allgemeine Inzidenzen als Maßstab. Wir haben aber kaum eine Ahnung, wo die Infektionen wirklich stattfinden.

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Impfstoffe, Grenzen, Testen: Zentrale Krisenkoordination fehlt

Wir haben jetzt mehr als ein Jahr Erfahrungen mit der Pandemie. Man hätte in dieser Zeit viele Ideen umsetzen können.

Sie sind auch die Vorsitzende des Europäischen Ethikrats. Welches Fazit ziehen Sie bislang aus der europäischen Zusammenarbeit in dieser Pandemie?

Die Europäische Union war nicht gut vorbereitet. Es gab dann bewegende Zeichen europäischer Solidarität bei der Versorgung in besonders betroffenen Regionen und manche Schritte führten in die richtige Richtung, aber es ist noch eine lange Wegstrecke zu gehen. Bei der Impfstoffverteilung sehe ich zum Beispiel nicht, dass es eine wirklich gemeinsame europäische Strategie gibt. Obwohl es einen europäischen Beschaffungsansatz gab, ist es nun doch eher ein nationales Vorgehen. Das Problem zeigt sich auch weltweit. Wir feiern in diesen Tagen, dass die ersten afrikanischen Länder überhaupt einmal Impfstoff bekommen. Es gibt erhebliche Ungleichheiten, die deutlich machen, dass wir kaum einen Blick für die weltweite Situation haben und jeder vor allem für sich selbst unterwegs ist.

Es bräuchte in Europa mit seiner besonderen geographischen Situation zum Beispiel Strategien für den Umgang mit Grenzen. Also was tun, wenn es auf der einen Seite niedrige Inzidenzen und eine hohe Durchimpfungsquote gibt und auf der anderen ein Corona-Hotspot ist? Statt einfach pauschal die Grenzen zu schließen, braucht es gerade dort gute Teststrategien, welche die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten größtmöglich absichern.

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Was sollten Europa und Deutschland für die nächste Pandemie gelernt haben?

Wir haben jetzt mehr als ein Jahr Erfahrungen mit der Pandemie. Man hätte in dieser Zeit viele Ideen umsetzen können. Wenn das aber nur schleppend bis gar nicht passiert, frage ich mich, wie das zu einem Bewusstseinswandel und zur Vorbereitung auf die nächste Pandemie führen kann. Eine zentrale Koordination auf nationaler und internationaler Ebene spielt meines Erachtens in einer solchen Bedrohungslage eine ganz entscheidende Rolle.

Beispiel Schnelltests: Warum sollen in einer Pandemie 16 Bundesländer einzeln verhandeln und beschaffen, wenn es zentral viel schneller und einfacher sein könnte? Warum gibt es keine Taskforce aus Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen und Vertretern aus der Gesellschaft, die in einer Pandemie gemeinsam Empfehlungen für die Politik erarbeiten?

Und auf europäischer Ebene?

Auch auf europäischer Ebene braucht es die Einführung zentraler Strukturen, welche die Früherkennung, das Monitoring und das Management einer Pandemie im Blick haben und damit auch die Koordination der Forschung, der Maßnahmen, die Bereitstellung von Schutzausrüstung, Tests, Medikamenten und Technologien. Dazu hat der Europäische Ethikrat zusammen mit der Gruppe hochrangiger Wissenschaftsberater der Europäischen Kommission im November letzten Jahres eine ausführliche Stellungnahme vorgelegt, die teilweise von der Kommission schon umgesetzt wird.

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