Jeder hat Anspruch auf eine Auffrischungsimpfung – doch die Empfehlungen gehen auseinander
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Eine Arzthelferin klebt den Nachweis einer dritten Impfung mit dem Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer in ein Impfbuch.
© Quelle: picture alliance/dpa
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ruft seit mehren Tagen die Deutschen dazu auf, sich eine sogenannte Boosterimpfung gegen das Coronavirus geben zu lassen. Laut Impfverordnung ist das sogar für alle diejenigen möglich, die für einen in Europa zugelassenen Corona-Impfstoff infrage kommen. Die Praxis sieht dabei aber anders aus. Kaum jemand hat sich bislang boostern lassen. Lediglich 1,9 Millionen Menschen haben die Drittimpfung bereits erhalten. Zur Einordnung: Mittlerweile sind 77,2 Prozent der über 18-Jährigen in Deutschland vollständig geimpft – das sind beinah 50 Millionen Menschen. Das sorgt für Ärger, bei Impfwilligen, aber auch bei denen, die impfen müssen.
Die Hausärzte kritisieren Spahn scharf. „Wir sind verärgert, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Erwartungen schürt, Boosterimpfungen seien für alle möglich“, sagte das Bundesvorstandsmitglied des Hausärzteverbands, Armin Beck, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Die Hausärzte folgen der Empfehlung der Ständigen Impfkommission und diese empfiehlt aktuell Drittimpfungen nur für über 70-Jährige und wenige andere Gruppen“, betonte er.
Anspruch und Wirklichkeit gehen also weit auseinander. Rechtlich bindend ist allein die Impfverordnung. Doch klar ist, dass sich die Ärztinnen und Ärzte vor allem an den ausgesprochenen Empfehlungen der Fachgremien orientieren. Doch davon gibt es viele.
Die gesetzliche Lage
Die Verwendung der Corona-Impfstoffe regelt in Deutschland die Impfverordnung, die das Bundesgesundheitsministerium erarbeitet hat. Sie sieht vor, dass grundsätzlich alle Menschen, für die ein Impfstoff in Europa zugelassen ist, Anspruch auf eine Auffrischungsimpfung haben. Dabei müssen lediglich die von der Ständigen Impfkommission (Stiko) empfohlenen Impfabstände eingehalten werden.
Das Expertengremium rät, eine Boosterimpfung frühestens sechs Monate nach der vollständigen Impfserie (also nach der Zweitimpfung bei Biontech/Pfizer, Moderna und Astrazeneca beziehungsweise im Fall von Johnson & Johnson nach der Erstimpfung) vorzunehmen. Verwendet werden soll ein mRNA-Impfstoff.
Dieses Vorgehen ist auch abgesichert durch die Empfehlung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA). Diese hatte im Oktober entschieden, dass sowohl der Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer als auch der von Moderna als Auffrischungsimpfstoffe für Menschen ab 18 Jahren in Betracht gezogen werden können. Die EMA hatte ebenfalls einen Impfabstand von mindestens sechs Monaten empfohlen.
Das bedeutet: Alle, deren vollständige Impfserie sechs Monate zurückliegt, können sich um eine Auffrischungsimpfung bemühen. Die Kostenübernahme sowie die Haftung bei möglichen Impfschäden sind durch die Impfverordnung abgesichert.
Das hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Freitagmorgen im rbb-Inforadio ebenfalls noch einmal klargestellt: „Wir haben genug Impfstoff, um alle, die wollen, auffrischzuimpfen“, sagte er. „Jeder, der sich boostern lässt, tut auch was dafür, dass wir sicher durch den Winter kommen.“
Der Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz
Empfohlen sind die Auffrischungsimpfungen allerdings nicht für jeden. So hatte Bundesgesundheitsminister Spahn zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern den Beschluss gefasst, nur bestimmte Risikopersonen auffrischen zu lassen. Dazu zählen:
- Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen,
- Bewohnerinnen und Bewohner in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und anderen vulnerablen Gruppen,
- Pflegebedürftige,
- Personen mit geschwächtem Immunsystem und deren Haushaltskontaktpersonen,
- Menschen ab 80 Jahren,
- Menschen ab 60 Jahren (nach individueller Risikoakzeptanz und ärztlicher Aufklärung),
- Personal in medizinischen Einrichtungen und Alten- und Pflegeheimen,
- Personen, die mit dem Corona-Impfstoff von Johnson & Johnson vollständig geimpft wurden,
- Personen, die mit dem Corona-Impfstoff von Astrazeneca vollständig geimpft wurden,
- Genesene, die nach ihrer Infektion eine Impfdosis eines Vektorimpfstoffes erhalten haben.
Die Entscheidung der Stiko
Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat wiederum ihre eigene Empfehlung herausgegeben, die sich zum Teil von der der Gesundheitsministerinnen und Gesundheitsminister unterscheidet. Das Expertengremium empfiehlt eine Boosterimpfung derzeit nur für folgende Personengruppen:
- Personen über 70 Jahren,
- Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen,
- Mitarbeitende in Alten- und Pflegeheimen, die direkten Kontakt zu Risikopersonen haben,
- Personal in medizinischen Einrichtungen mit direktem Patientenkontakt,
- Personen mit einem geschwächten Immunsystem,
- Personen, die mit dem Corona-Impfstoff von Johnson & Johnson vollständig geimpft wurden.
Anders als die Gesundheitsministerinnen und Gesundheitsminister empfiehlt die Stiko eine Auffrischungsimpfung nicht für Menschen unter 70 Jahren. Allerdings entfalten die Empfehlungen „keine unmittelbare rechtliche Wirkung“, wie es auf der Internetseite des Robert Koch-Instituts heißt, wo das Expertengremium angesiedelt ist.
Die Entscheidungen der Stiko sind also nicht bindend; sie haben aber einen hohen Stellenwert in der Ärzteschaft. „An diese Empfehlung sollten wir uns halten“, sagte etwa Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, gegenüber der FAZ. „Besonders wichtig ist es jetzt, mit einer durchschlagenden Auffrischungskampagne alle relevanten Zielgruppen zu erreichen.“
Die immunologische Seite
Die Ständige Impfkommission hatte ihre Empfehlung für die Auffrischungsimpfungen Ende Oktober im Epidemiologischen Bulletin (43/2021) genauer begründet. Sie argumentierte, dass die impfinduzierte Immunantwort im Alter verzögert einsetze und niedriger ausfalle. „Durch einen mit der Zeit nachlassenden Impfschutz sind Senioren und Seniorinnen im Vergleich zu jungen Menschen zu einem früheren Zeitpunkt nach Abschluss der Grundimmunisierung nicht mehr ausreichend geschützt, sodass vermehrt Durchbruchsinfektionen auftreten“, hieß es.
Gerade ältere Menschen haben jedoch ein erhöhtes Risiko, schwer zu erkranken, wenn sie sich mit dem Coronavirus infizieren. Die Delta-Variante, die zurzeit das Infektionsgeschehen in Deutschland dominiert, ist bekannt dafür, noch ansteckender zu sein als ihre Vorgänger. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich Personen, die nicht durch eine vorangegangene Infektion oder Impfung geschützt sind, mit der Virusvariante infizieren.
Eine Auffrischungsimpfung würde die Immunreaktionen bei Älteren verstärken und sie so vor Durchbruchserkrankungen schützen. Aus diesem Grund würden auch Menschen, deren Immunsystem ohnehin schon geschwächt ist (Immundefizienz), von einer Boosterimpfung profitieren. Außerdem reduziere sie auch das Übertragungsrisiko, urteilte die Stiko. „Daher ist es wichtig, dass Personal und andere Tätige in medizinischen Einrichtungen und in Senioren- und Altenpflegeheimen einen möglichst guten Impfschutz haben.“
Und alle anderen? Ist für gesunde, jüngere Menschen auch eine zusätzliche Impfdosis nach sechs Monaten sinnvoll?
Eine Boosterimpfung macht nach rund sechs Monaten grundsätzlich für alle Geimpften Sinn. Denn bei allen lässt der Impfschutz mit der Zeit nach, wie inzwischen mehrere Studien zeigen konnten. Zudem gibt es auch unter jüngeren Menschen sogenannte Low-Responder – also Menschen, deren Immunsystem auf die bisherigen Impfungen kaum reagiert hat. Sie würden also ebenfalls von einer weiteren Dosis profitieren.
Der Effekt auf die Ausbreitung des Coronavirus
„Allen impfbereiten Menschen eine dritte Impfung ein halbes Jahr nach der Zweitimpfung anzubieten, hätte auch einen dämpfenden Effekt auf die Virusverbreitung in der Bevölkerung“, merkte Prof. Leif-Erik Sander, Impfstoffforscher von der Berliner Charité, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) an.
Zu sehen war ein solche Wirkung der Boosterimpfungen etwa in Israel. Das Land hatte auch jüngere Menschen ein weiteres Mal impfen lassen und so einen erneuten Lockdown abwenden können. Ähnliche Fortschritte bräuchte es nun auch in Deutschland. Um diese zu erreichen, sei laut Sander jetzt vor allem eines wichtig: „Wir bräuchten jetzt sechs bis acht Wochen lang eine große Kampagne wie zu Beginn des Jahres, mit Impfzentren und mobilen Impfteams.“
Die Kritiker
Kritik daran kommt unter anderem vom Bonner Virologen Hendrik Streeck. Er hält die Ausweitung des Angebots der Boosterimpfungen auf die breite Bevölkerung zurzeit für verzichtbar. „Booster sind sinnvoll für die Gruppen, denen dies bereits empfohlen wird“, sagte er der dpa. „Alle anderen sind nach der Zweitimpfung in der Regel sehr gut vor einem schweren Verlauf geschützt. Wichtiger als Auffrischungen bei ihnen ist das Schließen der Impflücken bei den über 60-Jährigen.“ Knapp 15 Prozent der über 60-Jährigen sind noch nicht vollständig gegen Covid-19 geimpft, wie aus den Daten des offiziellen Impfdashboard hervorgeht.
Einige Expertinnen und Experten befürchten zudem, dass das Vertrauen in die Impfstoffe leiden könnte, wenn jetzt zu Auffrischungsimpfungen aufgerufen wird. Streeck führte als Gegenargument zudem die weltweit ungerechte Impfstoffverteilung an. In anderen Ländern würden die Impfdosen dringender gebraucht werden.