Krieg und Pandemie: Was tun, wenn zwei Krisen aufeinandertreffen?
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In der Bahnhofshalle von Przemysl in der Nähe des ukrainisch-polnischen Grenzübergangs kommen täglich Menschen an, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen. Der Schutz vor einer Corona-Infektion rückt in der akuten Krise in den Hintergrund.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Städte und Dörfer werden plötzlich zerstört. Die Einwohner und Einwohnerinnen der Ukraine versuchen, sich irgendwie vor dem Beschuss russischer Soldaten zu schützen. Sie harren in Bunkern aus, verschanzen sich hinter den eigenen vier Wänden, fliehen in den Westen des Landes oder ins Ausland. Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine vor rund einer Woche haben bereits mehr als eine Million Menschen das Land verlassen. Das meldet das UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR).
Für die kommenden Wochen erwarten die Vereinten Nationen noch eine weit größere Fluchtbewegung mit bis zu zehn Millionen weiteren Kriegsflüchtlingen. Und auch wenn das angesichts des Schreckens aktuell in den Hintergrund rückt: Europa befindet sich gleichzeitig immer noch in einer Pandemie. „In der Tat treffen hier zwei Krisensituationen aufeinander – im Kriegsgebiet in der Ukraine, aber auch in den Ländern, die Flüchtlinge aufnehmen, also auch in Deutschland“, sagt Timo Ulrichs, Professor für internationale Not- und Katastrophenhilfe an der Berliner Akkon Hochschule.
Hilfe für die Ukraine: Es braucht Masken, Corona-Tests und Impfmaterial
Zwar gehen die Zahlen der neu Infizierten weltweit gerade stetig zurück, die Corona-Lage wird sich im Frühling und Sommer wahrscheinlich deutlich entspannen. „Aber die Pandemie ist leider noch nicht vorbei“, betont der Epidemiologe. Vor Ort in der Ukraine trete die Corona-Pandemie angesichts von Raketenbeschuss, akuter Gefahr für Leib und Leben und den zunehmenden Härten bei der generellen Versorgung vollständig in den Hintergrund.
Im Krieg entstehen nun Bedingungen, die dazu führen könnten, dass das Virus vermehrt um sich greift. Viele Menschen harren dicht gedrängt in Bunkern und Kellern aus. Sie reisen stunden- bis tagelang in vollen und schlecht belüfteten Zügen und Bussen, viele kommen vorerst in Großunterkünften für Geflüchtete unter.
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Geflüchtete steigen am Morgen am Bahnhof von Przemysl in der Nähe der ukrainisch-polnischen Grenze in den Zug nach Berlin. Hier kommen täglich Menschen an, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Dem deutschen Bundesinnenministerium zufolge werden bereits freiwillige Corona-Tests an den Grenzen angeboten und bei Covid-Symptomen medizinische Fachkräfte hinzugezogen. Das allein reicht aber nicht. Es sei auch sinnvoll, in Deutschland ankommenden Geflüchteten eine Impfung und Auffrischung anzubieten, sagt Ulrichs. Erste Bundesländer wie Berlin und Rheinland-Pfalz haben bereits angekündigt, Impfkapazitäten und Impfstellen bereitzuhalten.
Bislang sind 34 Prozent der Ukrainer und Ukrainerinnen laut offiziellen Erhebungen vollständig gegen Covid-19 geimpft. Vorwiegend geimpft wurde mit den Mitteln von Astrazeneca, Sinovac, Biontech/Pfizer und Moderna, auch das Vakzin von Johnson & Johnson ist im Land zugelassen. Lieferungen des russischen Vektorimpfstoffs Sputnik V lehnte die Ukraine im Februar 2021 vehement ab.
Lage in der Ukraine: Wie im Krieg medizinisch versorgen?
Aber auch die Menschen, die in der Ukraine bleiben, müssen medizinisch versorgt werden – auch mit in einer Pandemie wichtigen Dingen wie beispielsweise Masken. Da kann man auch aus dem Ausland heraus helfen. „Die Lieferung von Medikamenten und Verbrauchsmitteln für Krankenhäuser sollte im Vordergrund unserer Bemühungen stehen – da könnten auch gleich Testsysteme, Masken und Impfmaterialien mitgeliefert werden“, fordert Ulrichs.
Im Kriegsgebiet selbst ist die medizinische Versorgung der Ukrainer und Ukrainerinnen bereits vielfach nicht mehr möglich. Es mehren sich auch unbestätigte Berichte über Angriffe auf Krankenhäuser. Bislang sei ein Fall bestätigt worden, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus am Mittwoch in Genf. Vergangene Woche sei eine Klinik unter Beschuss geraten. Dort seien vier Menschen getötet und zehn verletzt worden. Berichte über weitere Angriffe würden noch geprüft.
Eine Sorge, die schwer kranke Covid-Patienten und -Patientinnen betreffen könnte: Die Versorgung mit Sauerstoff wird in den Kliniken knapp. So gebe es in der Ukraine aktuell rund 2000 Menschen, die dringend Sauerstoff zum Überleben brauchen, sagte WHO-Nothilfekoordinator Mike Ryan in einem Briefing am Mittwoch. Dazu zählten nicht nur an Covid Erkrankte, sondern auch Menschen mit Verletzungen, die sich einer Operation unterziehen müssen. Auch Kinder, etwa mit Lungenentzündungen, seien darauf angewiesen. „Man kann nicht bis zum nächsten Tag auf Sauerstoff warten“, betonte Ryan.
Eine Verlegung an einen anderen Standort ist ebenso schwierig. „Es ist zunächst wichtig, Patienten zu evakuieren, deren Versorgung in den Städten nicht mehr sichergestellt werden kann, etwa krebskranke Kinder – bevor sich die Belagerungsringe um die Städte schließen“, betont Ulrichs. Aber wie, wenn die Panzer rollen? Das Beispiel der Stadt Cherson zeige, dass selbst nach einer Eroberung durch Russland die Versorgung offensichtlich nicht sichergestellt werde.
Die Weltgesundheitsorganisation hatte diese Woche bereits die Einrichtung eines Hilfskorridors zur Versorgung von Zivilisten in der Ukraine gefordert. Immerhin: Delegationen aus der Ukraine und Russland haben sich in einem Gespräch am Donnerstag darauf geeinigt, solche humanitären Korridore einzurichten. Darüber sollen Bürgerinnen und Bürger aus der Ukraine evakuiert und Lebensmittel und Medikamente geliefert werden. Dies erklärte ein Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Darüber berichteten die russische Nachrichtenagentur Rias und ausländische Journalisten übereinstimmend. Zunächst war aber unklar, wo diese Korridore verlaufen sollen.
Doppelbelastung für Deutschland im Herbst?
Das bedeutet für Deutschland mindestens eine Doppelbelastung für den Herbst: zu versorgende Geflüchtete und eine neue Pandemiewelle.
Timo Ulrichs,
Experte für Katastrophenhilfe
Experten und Expertinnen gehen davon aus, dass der Krieg in der Ukraine lange andauern könnte. Das wird sich auch hierzulande auswirken. „Das bedeutet für Deutschland mindestens eine Doppelbelastung für den Herbst: zu versorgende Geflüchtete und eine neue Pandemiewelle“, sagt Ulrichs. Er plädiert dafür, rechtzeitig eine allgemeine Dienstpflicht einzuführen – um Gesundheitseinrichtungen des Technischen Hilfswerks und der Bundeswehr verstärken zu können.
Zudem verweist er auf ein weiterhin nicht gelöstes Pandemieproblem im eigenen Land: die Impflücke. 75,5 Prozent der Menschen in Deutschland (mindestens 62,8 Millionen Menschen) haben einen Grundschutz erhalten, für den meist zwei Spritzen nötig sind. Bundesweit haben 57,2 Prozent (47,5 Millionen) zusätzlich eine Auffrischungsimpfung bekommen. Mindestens einmal geimpft sind 76,3 Prozent (63,5 Millionen Menschen). Gleichzeitig ist das Impftempo in den ärztlichen Praxen, Impfstellen und -zentren auf dem niedrigsten Niveau seit Beginn der Impfungen. Und die Einführung einer Impfpflicht trete wegen des Krieges aktuell in den Hintergrund, gibt Ulrichs zu bedenken.
Krieg in der Ukraine: Wie kann man helfen?
Sinnvoll seien im Moment eher Geld- als Sachspenden, „denn es wird in den Grenzregionen zunehmend schwieriger, Letztere an die Orte in der Ukraine zu liefern, wo sie benötigt werden“. Es gibt eine Reihe von Hilfsorganisationen, die bereits zu Spenden aufgerufen haben – etwa das Bündnis „Aktion Deutschland Hilft“ und die „Diakonie Katastrophenhilfe“. Eine Übersicht und Kontodaten finden Sie in dieser Übersicht.
Mit Material von dpa