Kritik an RKI-Berechnung: Hospitalisierungsinzidenz wird stark unterschätzt
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Die Hospitalisierungsrate ist der neue zentrale Parameter im Umgang mit der Corona-Pandemie. Doch die Berechnungsmethode des Robert Koch-Instituts steht in der Kritik.
© Quelle: Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbil
Berlin. Sie soll die neue zentrale Kategorie im Kampf gegen die Corona-Pandemie sein: Die Zahl der Covid-19-Erkrankten, die im Krankenhaus behandelt werden müssen. Seit Mitte Juli sind Krankenhäuser verpflichtet, covidbedingte Aufnahmen an die Gesundheitsämter zu melden. Diese Hospitalisierungsrate soll künftig der entscheidende Indikator dafür sein, ob Maßnahmen verschärft oder gelockert werden. Die Änderung des Infektionsschutzgesetzes trat am Mittwoch in Kraft.
Inzidenz soll im Schnitt 79 Prozent höher liegen
Doch an der Hospitalisierungsinzidenz gibt es erhebliche Kritik. Die vom Robert Koch-Institut (RKI) veröffentlichte Zahl der in den vergangenen sieben Tagen in Krankenhäusern behandelten Covid-19-Patientinnen und -Patienten pro 100.000 Einwohnern soll im Schnitt 79 Prozent unter der tatsächlichen Inzidenz liegen. Das geht aus Berechnungen von Zeit Online hervor.
Der Grund liegt in der Berechnungsmethode des RKI. Denn die Hospitalisierungsinzidenz zeigt nicht die Zahl aller im Laufe einer Woche im Krankenhaus aufgenommenen Covid19-Infizierten. Stattdessen richtet sich das RKI nach dem Meldedatum der Corona-Infektion – also dem Datum, an dem eine Person positiv auf das Coronavirus getestet worden ist. Die tagesaktuelle Hospitalisierungsinzidenz des RKI gibt also nur Aufschluss über die Zahl der Menschen, die im Laufe der letzten vergangenen Tage sowohl positiv auf Corona getestet wurden als auch sofort im Krankenhaus aufgenommen werden mussten.
Das Problem: Die wenigsten Menschen müssen unmittelbar nach der Feststellung einer Corona-Infektion ins Krankenhaus. Häufig beginnt die Erkrankung mild und verschlimmert sich im Laufe der Zeit. Bis jemand nach einem positiven Corona-Test ins Krankenhaus kommt, können mehr als sieben Tage vergehen. Solche Fälle werden vom RKI nachträglich in die Berechnungen eingefügt – und zwar jeweils in der Woche, in der die Patientin oder der Patient positiv getestet wurde. Die Folge: Die Statistik des RKI zeigt erst Wochen später die tatsächliche Hospitalisierungsrate für einen bestimmten Tag an.
Zahlen werden erst durch Nachmeldungen belastbar
Das RKI begründet dieses Vorgehen auf Anfrage damit, dass das Hospitalisierungsdatum nicht für alle übermittelten Fälle vorliege – das Meldedatum dagegen schon. Doch die Methode führt zu großen Verzerrungen: Wie Zeit Online berichtet, gab das RKI die Hospitalisierungsrate etwa am 23. August mit 1,28 an. Inklusive der Nachmeldungen liegt der Wert für diesen Tag inzwischen bei 2,50 und damit fast doppelt so hoch. Am Donnerstag gab das RKI die Hospitalisierungsinzidenz in Deutschland mit 1,87 an. Laut Berechnungen des Spiegel könnte sie derzeit stattdessen bei etwa 3,7 liegen.
„Wir müssen bei der Hospitalisierungsrate nicht jeden Tag bis auf die letzte Kommastelle genau wissen, wie die Situation ist“, sagt der wissenschaftliche Leiter des Intensivregisters der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Christian Karagiannidis. Man müsse sich vor Augen führen, dass die primäre Tätigkeit der Krankenhausmitarbeitenden die Versorgung der Patientinnen und Patienten und nicht die tagesaktuelle Übermittlung von Daten sei. „Wir müssen lernen, einen gewissen Toleranzbereich bei Messwerten zu akzeptieren“, sagt Karagiannidis. Bei der Intensivbelegung hingegen müsse man extrem genau sein. „Das haben wir in den letzten 12 Monaten erreicht.“
Durch die aktuelle Debatte sieht der Intensivmediziner seine Forderung bestätigt, die Hospitalisierungsrate nicht als einziges Kriterium für die Beurteilung der pandemischen Lage zu berücksichtigen. „Wir brauchen die Inzidenzen der Neuinfektionen, die Hospitalisierungen und die Intensivbelegungen – wenn wir diese drei Parameter zusammen betrachten, dann sind wir gut abgesichert“, betont Karagiannidis.
Statistiker: Zählweise „als Prognoseindikator dysfunktional“
Der Statistikexperte Andreas Schuppert hält die Kritik am Vorgehen des RKI bei der Berechnung der Hospitalisierungsinzidenz für valide. Der Professor am Lehrstuhl für Computational Biomedicine an der Technischen Hochschule Aachen (RWTH) errechnet den Bedarf der in der Pandemie benötigten Intensivbetten in Zusammenarbeit mit der DIVI. Die Verzögerung, die sich durch den Berechnungsweg des RKI ergebe, sei erheblich, so Schuppert. „Diese Zählweise der Hospitalisierungen ist für die Nutzung als Prognoseindikator dysfunktional.“
Die Berechnungen des RKI seien deshalb nicht falsch, aber stark zeitverzögert, betont Schuppert. Dies werde in dem Moment zum Problem, wenn die Hospitalisierungsinzidenz als maßgebliches Kriterium für politische Entscheidungen herangezogen werde. „Das führt dazu, dass wir der Realität immer hinterherlaufen“, sagt Schuppert. In der Betrachtung des Infektionsgeschehens ergebe sich dadurch eine deutlich kürzere Vorwarnzeit. Je schneller sich die Pandemie ausbreite, desto größer werde die Verzögerung.
Schuppert sieht keinen Grund, warum die täglich erfassten Krankenhauseinweisungen nicht als Grundlage für die Hospitalisierungsinzidenz herangezogen werden sollten. In Großbritannien werde das bereits so gemacht. „Dann bekäme man eine Maßzahl, die es erlaubt, schneller zu reagieren“, sagt Schuppert.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass das Schaubild des RKI den Eindruck vermittelt, die Hospitalisierungsinzidenz sei zuletzt stark gesunken. Tatsächlich fehlen aber Zahlen für den aktuellen Zeitraum. In den Covid-19-Trends weist das Institut selbst auf diesen Umstand hin und vermerkt: „Unterschätzung der aktuellen Inzidenzen, da Hospitalisierung gegebenenfalls erst im Verlauf mehrerer Tage nach dem Meldedatum auftritt.“
RKI verweist auf weitere Kennzahlen
Wenn das Hospitalisierungsdatum nicht in allen Fällen vorliegt, könnte das Eingangsdatum der Krankenhausmeldung beim RKI stattdessen als Grundlage für die Berechnung dienen, lautet ein anderer Vorschlag. Warum das RKI weiter am Meldedatum der Corona-Infektion als Berechnungsgrundlage festhält, dazu äußert sich das Institut nicht offiziell. Stattdessen verweist es darauf, dass neben der Hospitalisierungsrate eine Vielzahl weiterer Kennzahlen zur Verfügung stehe. Diese könnten die Behörden zur Beurteilung der Situation heranziehen. Eine Änderung des Berechnungswegs gilt als unwahrscheinlich.
Karagiannidis sieht die Debatte um die Hospitalisierungsinzidenz auch als Anlass, um erneut über die Datenerfassung in der Pandemie nachzudenken. „Um eine gute Datenqualität zu erhalten, wäre es wichtig, über die Einrichtung von Dokumentationsstellen in den Krankenhäusern nachzudenken, damit man diese Aufgabe nicht den Ärzten aufbürdet“, sagt der Leiter des DIVI-Intensivregisters. Eine Förderung solcher Dokumentationsassistenzen, etwa durch das Bundesgesundheitsministerium, wäre ein sinnvoller Schritt, so Karagiannidis.