Rund 10 Prozent mehr Abtreibungen im Jahr 2022 – ein dramatischer Anstieg?
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2021 war die Zahl der Abtreibungen so gering wie seit Jahrzehnten nicht.
© Quelle: Christin Klose/dpa-tmn
Der Anstieg wirkt enorm: 2022 gab es 9,9 Prozent mehr Schwangerschaftsabbrüche als im Jahr zuvor. 2021 waren es rund 94.600 Fälle, im folgenden Jahr schon 104.000. Was steckt hinter den Zahlen?
Anstieg wirkt dramatischer als er ist
Dem Anstieg der Abtreibungen 2022 ging ein Absturz 2021 voraus. Seit 2012 haben noch nie so wenige Frauen abgetrieben wie 2021. Grund für den Rückgang der Schwangerschaftsabbrüche war mit hoher Wahrscheinlichkeit die Pandemie. Vor der ersten Corona-Welle in Deutschland, im Jahr 2019, brachen 100.893 Frauen eine Schwangerschaft ab. Das sind über 5000 mehr als im Corona-Jahr 2021. Auch mit Blick auf die besser vergleichbaren relativen Zahlen ist ein deutliches Loch erkennbar: 2021 wurden je 1000 Geburten 117,7 Schwangerschaften abgebrochen, im Jahr 2019 waren es 127,7. Für das Jahr 2022 liegen die relativen Zahlen noch nicht vor.
Soziologin Lara Minkus erforscht, wieso Frauen abtreiben. Sie erklärt: „Während der Pandemie war der Zugang zur verpflichtenden Beratung und zu Ärztinnen und Ärzten sehr schlecht.“
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Innerhalb der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft bleibt ein Abbruch immer straffrei, wenn Schwangere sich von offizieller Seite beraten lassen. Eine von diesen staatlich anerkannten Beratungseinrichtungen ist Pro Familia. Auch Regine Wlassitschau, Pressesprecherin bei Pro Familia, bestätigt, dass die Situation während der Pandemie extrem schwierig war. Sie erzählt: „Pro Familia hat während Corona viel über Telefon und Video beraten. Am Anfang war erst mal unklar, ob wir die Beratungsbescheinigungen überhaupt per Post verschicken dürfen.“ Doch wer keine Bescheinigung hat, darf auch nicht abtreiben.
Besonders kompliziert war die Situation für Frauen, die wenig verdienen. Nach der verpflichtenden Beratung müssen die nämlich einen Antrag bei ihrer Krankenkasse stellen, damit diese die Kosten übernimmt. Die Gespräche fanden digital statt. „Das heißt, die Frauen mussten sich die Anträge mailen lassen, schickten sie dann ausgefüllt an die Krankenkasse und bekamen erst dann die Bescheinigung zugeschickt“, so Wlassitschau. Das habe oft tagelang gedauert. Bei der engen Frist von zwölf Wochen können ein paar Tage fatal sein.
Doch auch im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie bleibt eine Steigerung im Jahr 2022 erkennbar. In den letzten Jahren ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche kontinuierlich gesunken. Im Jahr 2000 trieben noch über 134.000 Frauen ab, wobei auf 1000 Geburten 175 Abtreibungen kamen. 2015 brachen nur noch 98.464 Frauen eine Schwangerschaft ab und auf 1000 Geburten kamen nur noch 137 Abtreibungen. Vor diesem Hintergrund bleibt überraschend, dass es auch im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie im Jahr 2022 etwas mehr Abtreibungen gab – obwohl die Zahlen seit Jahrzehnten immer weiter sinken. Wie lässt sich der Anstieg aber erklären?
Kein „Werbeverbot“ mehr für Abtreibungen
Im Juni 2022 kippte die Ampelkoalition das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen. Ärztinnen und Ärzte dürfen seitdem zum Beispiel auf ihrer Website schreiben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen und welche Methoden sie anwenden. Die Medizinerin Kristina Hänel war noch 2017 zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden, weil sie auf ihrer Website über den Eingriff informierte. 2021 reichte sie Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil ein. Der gesamte Prozess erhielt viel mediale Aufmerksamkeit.
Befürworter des Werbeverbots mögen den Grund für die höhere Zahl an Abtreibungen 2022 in der Gesetzesänderung der Ampel sehen. Wissenschaftlerin Minkus findet, dass die Abschaffung notwendig war, hält es jedoch für unwahrscheinlich, dass sie einen bedeutenden Einfluss auf die Zahlen hatte. Möglich sei natürlich, dass einige Frauen die Angst vor der Prozedur verlören, weil sie nun mehr Informationen zur Verfügung haben. Laut ihr entscheiden sich Schwangere aber vor allem dann für einen Abbruch, wenn ihre Lebenssituation unsicher ist. „Die allermeisten Frauen treiben nicht aus spontanen Impulsen ab, sondern aus rational nachvollziehbaren Gründen“, so Minkus. So brechen Frauen unter anderem besonders häufig Schwangerschaften ab, wenn sie noch in der Ausbildung oder im Studium sind.
2022 erreichte die Inflation einen Höhepunkt
Die wirtschaftliche Lage kann hingegen tatsächlich Einfluss auf die Zahl der Abtreibungen gehabt haben. Soziologin Minkus meint: „2022 hatten vermutlich viele Menschen wegen der Inflation extreme Geldprobleme. 7,9 Prozent betrug die Inflationsrate 2022 und ist damit so hoch wie seit Jahrzehnten nicht. Zum Vergleich: Im Pandemiejahr 2021 betrug die Inflation 3,1 Prozent, 2020 sogar nur 0,5. Es ist wissenschaftlich gut untersucht, dass finanzielle Sorgen einen Schwangerschaftsabbruch wahrscheinlicher machen.“ Zugespitzt gesagt: Wer sich sorgt, ob er oder sie die Heizkosten zahlen kann, scheut wahrscheinlich auch die Kosten, die Kinder mit sich bringen. Bis zum 18. Lebensjahr zahlen Eltern immerhin im Schnitt 165.000 Euro für ihren Nachwuchs.