No Covid, Jo-Jo-Effekt, elastischer Stufenplan: Wie sich die Corona-Strategien unterscheiden
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Der Umgang mit den Schulen ist in dieser Pandemie Streitpunkt schlechthin. Über Öffnungen in diesem und vielen weiteren Bereichen muss die Politik entscheiden.
© Quelle: Philipp von Ditfurth/dpa
Am 3. März kommen Bund und Länderchefs das nächste Mal zusammen, um über die Corona-Regeln zu entscheiden. Diesmal steht auf der Agenda auch das Beschließen eines Plans, unter welchen Voraussetzungen Lockerungen in den Bundesländern und Landkreisen möglich sein könnten – und was bei einem möglichen erneuten Anstieg der Fallzahlen zu tun ist.
Die Ausrichtung und Entscheidung ist eine politische, Ansätze für die Diskussion liefert aber auch die Wissenschaft. Beziehungsweise Wissenschaftler – denn eine eindeutige Strategieempfehlung von allen Forschern aus allen Disziplinen gibt es nicht.
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Die Pandemie und wir
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Es steht dabei viel auf dem Spiel. Ergebnisse einer regelmäßig durchgeführten „Cosmo“-Umfrage unter der Leitung der Erfurter Psychologie-Professorin Cornelia Betsch zeigen, dass sich das Vertrauen in die Bundesregierung in den vergangenen Wochen verringert hat. Im Februar geben 36 Prozent von 819 Befragten an, der Bundesregierung noch zu vertrauen, im Dezember waren es noch 48 Prozent. Die geltenden Lockdownmaßnahmen werden im Februar mit 31 Prozent stärker abgelehnt als Ende 2020 mit 23 Prozent.
Ein Großteil der Pandemieforscher plädiert für eine eindeutige politische Ausrichtung auf eine Strategie – statt alle paar Wochen den Status quo zu prüfen und kurzfristig zu entscheiden. Denn die Menschen könnten durch unklar formulierte Perspektiven die vereinbarten Regeln zur Eindämmung des Virus nicht mehr mittragen. „Wenn wir darüber sprechen, dass Menschen solidaritätsmüde sind, ist das häufig zurückzuführen auf das Gefühl, dass die Regeln als unfair und wenig konsistent wahrgenommen werden“, sagt die Politologin Barbara Prainsack, die an der Universität Wien dazu forscht, aus welcher Motivation heraus Corona-Regeln nicht mehr eingehalten werden.
Nun fällt auch bei den Vorschlägen aus der Wissenschaft ein Überblick für den Laien schwer. No Covid, Stufenplan ohne Jo-Jo-Effekt und „elastischer“ Stufenplan: Konzepte gibt es inzwischen viele, an denen Politiker sich orientieren können. Wo aber liegen die Unterschiede – und welcher Corona-Experte steht für was?
No Covid: Die Null als Ziel und grüne Zonen als Anreiz
Mithilfe einer „proaktiven lokalen Eliminationsstrategie“ schlagen einige Forscher mit einer „No Covid“-Strategie das Ziel einer nachhaltig niedrigen Inzidenz – im Idealfall null – vor. Als Gesellschaft beinhalte dieser Ansatz den Grundsatz, nicht mit dem Virus leben zu wollen und zu können. Es gehe um das formulierte Ziel, die unkontrollierte Weiterverbreitung vollständig und nachhaltig beenden zu wollen. „Dies gilt für jede Gemeinde, jedes Bundesland, für Deutschland, Europa und weltweit“, heißt es im Konzept. Damit komme man dem Infektionsgeschehen zuvor, statt von ihm überholt und abgehängt zu werden.
Das zentrale Instrument sind sogenannte grüne Zonen, in denen Lockerungen möglich werden. Diese entstehen bei einer Inzidenz von zehn und weniger. Ab diesem Zeitpunkt sind erste Lockerungen denkbar. Weitgehende und dauerhafte Öffnungen sind aber erst möglich, wenn danach zwei Wochen lang keine Corona-Infektionen mehr auftreten. Durch dieses Prinzip entstehe ein „positiver Wettbewerb zwischen Regionen“, schreiben die Autoren des Konzepts. Wichtig sei nach Erreichen des Ziels ein gutes Monitoring des Infektionsgeschehens, um frühzeitig Ausbrüche erkennen zu können und wieder mit Maßnahmen gegenzusteuern. Gibt es im Umkreis der grünen Zone Gebiete mit Infektionen, müsse die Mobilität dorthin eingeschränkt werden.
Vom „Zero Covid“-Aufruf grenzen sich die Autoren des No-Covid-Konzepts ab. Es gehe bei den „grünen Zonen“ nicht darum, in Europa einen kollektiven kompletten Shutdown bis zur Null zu etablieren, bei dem die Wirtschaft komplett heruntergefahren werden soll. Vielmehr solle ein Anreiz geschaffen werden, die Maßnahmen durchzuhalten.
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An der No-Covid-Strategie beteiligt: Melanie Brinkmann, Virologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung.
© Quelle: Michael Sohn/POOL AP/dpa
Hinter „No Covid“ steht ein interdisziplinäres Team – unter anderem die Virologin Melanie Brinkmann und der Physiker Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, der Ökonom Clemens Fuest vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München, der RKI-Physiker Dirk Brockmann von der Humboldt-Universität Berlin, der Pädagoge Menno Baumann von der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf und der Internist Michael Hallek von der Universität zu Köln.
Elastischer Stufenplan ohne Kopplung an den Inzidenzwert
Für einen „elastischen und transparenten Stufenplan“ ohne Ausrichtung am Sieben-Tage-Inzidenzwert plädiert eine Gruppe um den Epidemiologen Klaus Stöhr. Damit könne man der dynamischen Pandemieentwicklung durch neue Varianten, Saisonalität und Populationsbewegungen gerechter werden. Die Elimination eines Pandemievirus sei in Deutschland nicht realistisch. Entscheidende Erfolgskriterien müssten von der Politik „dringend“ festgelegt und eine Positivagenda etabliert werden. Vorstellbar für eine Beurteilung des Pandemiegeschehens sei eine Kombination aus R-Wert-Trend, risikogruppenspezifischen Inzidenzen, der Belastung des Gesundheitssystems, der Belegung der Intensivstationen und die Entwicklung der Sterbefälle.
Die Gruppe plädiert zudem für interdisziplinäre Arbeitsgruppen, welche die Eskalationsstufen der Maßnahmen in den einzelnen Lebensbereichen festlegen sollten. Wie genau die aussehen sollen, bleibt bislang vage. In jeder Stufe brauche es ein eigenes Maßnahmenpaket: von der Kita bis zum Einzelhandel, dem ÖPNV bis zum Arbeitsplatz. Falls es Veränderungen gebe, etwa den Wechsel in eine andere Stufe, soll klar sein, was an den Maßnahmen geändert werde. Der Erfolg orientiere sich daran, die gesundheitlichen Auswirkungen zu minimieren.
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Neben dem Koordinator der Arbeitsgruppe Klaus Stöhr, der mehrere Jahre lang das Global-Influenza-Programm der WHO geleitet hat und dort Sars-Forschungskoordinator war, sind unter anderem auch der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg, Reinhard Berner, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und Rene Gottschalk, Leiter vom Gesundheitsamt Frankfurt, beteiligt. Unterstützer sind beispielsweise auch Hendrik Streeck, Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Bonn und der Virologe Hans-Dieter Klenk (Marburg).
Mittelweg zwischen No Covid und Stöhr-Ansatz: Stufenplan ohne Jo-Jo-Effekt
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Die Virologin Sandra Ciesek sieht ein großes Potenzial in Schnelltests.
© Quelle: imago images/IPON
Eine Gruppe von Wissenschaftlern sucht einen Mittelweg zwischen No Covid und Stufenplänen, die höhere Inzidenzen an der Kapazitätsgrenze einkalkulieren. Das Infektionsgeschehen ohne Sicherheitspuffer laufen zu lassen sei zu gefährlich, grüne Zonen zu halten sei in der derzeitigen Situation nur schwer zu erreichen. Es solle deshalb zuerst darum gehen, die durch den monatelangen Lockdown gesunkenen Fallzahlen nun auch wirklich halten zu können. „Hauptziel dieser auf Nachhaltigkeit abzielenden Strategie ist die Vermeidung eines Jo-Jo-Effekts, also die ständige Wiederkehr hoher Infektionszahlen aufgrund verfrühter Lockerungen“, heißt es im Papier.
Wegen einer sich polarisierenden Debatte würden derzeit hauptsächlich Befürworter und Gegner von Lockdowns identifiziert. Es brauche aber eine Differenzierung nach einzelnen und zielgerichteten Maßnahmen und das Nutzen neuer Tools wie Schnelltests. Stufenpläne sollten auf transparente Weise aufzeigen, welche Teile des öffentlichen Lebens in welcher Reihenfolge – und auf Basis welcher Überlegungen – geöffnet werden können. Das grundlegende Ziel müsse klar formuliert sein: „Erst wenn ein stabiles und sicheres Inzidenzniveau erreicht ist, kann zielgerichtet, intelligent und regional abgestuft gelockert werden“, so die Autoren.
Der Vorschlag zielt mittelfristig auf eine Wocheninzidenz von zehn pro 100.000 Einwohner, wo immer möglich auch darunter. Bei den Grenzwerten von 25 und 35 seien vorsichtige erste Lockerungen möglich – unter der Voraussetzung, dass die Fallzahlen trotzdem weiter sinken. Die 50er-Inzidenz sei eine harte Obergrenze, zu der ein ausreichender Sicherheitsabstand angestrebt werden solle. Darüber sei ein Lockdown nötig – je zügiger und härter, umso effektiver sei er und damit auch schneller wieder vorbei. Für die Stufenpläne brauche es repräsentative Infektionszahlen, zum Beispiel durch Zufallsstichproben in der Gesamtbevölkerung, die unabhängig von Symptomen erhoben werden. Diese würden – nach Region und Alter aufgeschlüsselt – auch die Evaluierung der verschiedenen Eindämmungsstrategien deutlich erleichtern.
Hinter diesem Ansatz stehen Wissenschaftler wie die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek, die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, der Soziologe Armin Nassehi von der LMU München und die Mathematik-Professorin Anita Schöbel von der Technischen Universität Kaiserslautern.