Rückblick auf die Triage in Norditalien: ein Trauma für Ärzte, Patienten und Angehörige

In Bergamo wurde Anfang des Jahres eine Triage für Coronavirus-Notfälle eingerichtet.

In Bergamo wurde Anfang des Jahres eine Triage für Coronavirus-Notfälle eingerichtet.

Am schlimmsten war die Situation in der Provinz Bergamo: Aus dem Spital Papst Johannes XXIII, dem drittgrößten in der Lombardei, kam am 17. März die Nachricht: „Alle 80 Plätze der Intensivstation sind belegt.“ Die täglich neu ankommenden Covid-Patientinnen und -Patienten wurden in der Not in Betten auf den Korridoren, in Wartezimmern und sogar in Badezimmern gelegt.

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Die TV-Bilder von Dutzenden Patientinnen und Patienten unter Plastikhauben, die sie vor dem Ersticken bewahren sollten, gingen um die Welt. „Ich werde das nie vergessen können: Von überall kommen Patientinnen und Patienten mit schweren Lungen- und Atemproblemen, die röcheln und um Luft ringen“, berichtete damals der Chefarzt für Lungenkrankheiten des Spitals, Fabiano Di Marco.

Nicht alle Menschen erhielten die nötige medizinische Versorgung

Im Spital von Bergamo wurden auf dem Höhepunkt der ersten Welle bis zu 500 Covid-Patientinnen und -Patienten gleichzeitig behandelt; der Sauerstoffverbrauch auf der Intensivstation betrug 8600 Liter pro Stunde. Das Personal arbeitete an der Grenze der Belastbarkeit und darüber hinaus. Freie Plätze auf der Intensivstation gab es nur noch, wenn Patientinnen und Patienten sich erholten oder verstarben – das waren etwa 25 pro Tag. Gleichzeitig wurden aber täglich zwischen 70 und 100 neue Covid-Patientinnen und -Patienten eingeliefert; vor der Notaufnahme standen mitunter Dutzende von Ambulanzen mit schwer kranken oder sterbenden Menschen, zum Teil bis zu zwölf Stunden lang. Viele der Patientinnen und Patienten konnten in die Spitäler anderer, weniger stark betroffener Regionen transportiert werden – aber nicht alle.

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Von offizieller Seite ist es nie zugegeben worden, aber es liegt auf der Hand: In der Provinz Bergamo, wo alleine im ersten Monat der Pandemie über 6000 Menschen an oder mit Covid verstarben, haben bei Weitem nicht alle Patientinnen und Patienten die medizinische Hilfe erhalten, die sie eigentlich benötigt hätten. Hunderte vor allem ältere Menschen starben alleine zu Hause, weil keine Ambulanzen mehr vorhanden waren, die sie hätten ins Krankenhaus bringen können, oder weil der Hausarzt derart überlastet war, dass er nicht mehr zu den bettlägerigen Patientinnen und Patienten fahren konnte. Und in einzelnen Fällen mussten Medizinerinnen und Mediziner eine Entscheidung über Leben und Tod treffen: Sie mussten bestimmen, welcher Patient oder welche Patientin einen frei werdenden Platz auf der Intensivstation erhält und welcher oder welche nicht.

Kriterien und Richtlinien für eine Triage sind komplex

Die italienische Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivtherapie hatte bereits am 6. März, als der Druck auf die Intensivstationen immer stärker wurde, „ethische Empfehlungen für die Gewährung von intensiv-medizinischen Behandlungen in Situationen eines außergewöhnlichen Ungleichgewichts zwischen notwendigen und tatsächlich vorhandenen Kapazitäten“ erlassen. Der Katalog enthält insgesamt 15 Punkte. Der Wichtigste: Allein auf das Alter des Patientinnen und Patienten abzustellen, sei nicht zulässig. Das wichtigste Kriterium sei vielmehr, ob die Intensivbehandlung überhaupt erfolgversprechend und wie groß die Lebenserwartung nach der Therapie sei. Es gehe demnach darum, mit den nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehenden Ressourcen für möglichst viele Patientinnen und Patienten das Maximum zu erreichen.

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Natürlich sei es „äußerst schwierig, einen sterbenden Patienten aufzugeben“, betont die Universitätsprofessorin und Intensivmedizinerin Flavia Petrini, die bei der Ausarbeitung der Triagerichtlinien beteiligt war. Aber es sei eine Illusion zu glauben, dass immer und in jedem Fall genügend Intensivkapazitäten vorhanden seien: Beim Erdbeben von L‘Aquila im Jahr 2009 mit Tausenden von Verletzten sei das auch nicht der Fall gewesen. Wichtig sei aber, dass das Gesundheitssystem so gut wie möglich auf Extremsituationen wie eine Pandemie oder ein Erdbeben vorbereitet sei. Das war in Italien zu Beginn der Pandemie nicht der Fall gewesen: Es mangelte an allem, auch an Schutzmaterial für das medizinische Personal. Zahlreiche Ärztinnen und Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte haben sich selbst angesteckt, Dutzende von ihnen sind verstorben.

Nach der „Apokalypse von Bergamo“ sind außerdem mehrere Ärztinnen und Ärzte von den Angehörigen Verstorbener, die keinen Platz mehr auf den Intensivstationen gefunden haben, verklagt worden. Es sei auch zu Gewaltakten gekommen, betont Flavia Petrini: Auf dem Parkplatz des Covid-Spitals von Rimini hätten Unbekannte die Scheiben der dort geparkten Autos der innen und Mediziner und Pflegekräfte eingeschlagen. Die Verzweiflung der Angehörigen sei verständlich – aber in der Regel werde dabei nicht danach gefragt, ob die Intensivbehandlung überhaupt noch etwas gebracht hätte. Genau dies zu entscheiden sei in solchen Extremsituationen die Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte.

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