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Tübinger Intendant über Theateröffnung: „Ich hatte das Gefühl, in einem Science-Fiction-Film zu sein“

Franziska Beyer, Jennifer Kornprobst, Gilbert Mieroph, Stephan Weber, Dennis Junge und Jürgen Herold (v.l.) in der 80er-Jahre-Musik-Revue „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“, mit der das Landestheater Tübingen nach fünfmonatiger Zwangspause seinen Spielbetrieb wieder aufnahm.

Franziska Beyer, Jennifer Kornprobst, Gilbert Mieroph, Stephan Weber, Dennis Junge und Jürgen Herold (v.l.) in der 80er-Jahre-Musik-Revue „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“, mit der das Landestheater Tübingen nach fünfmonatiger Zwangspause seinen Spielbetrieb wieder aufnahm.

Das Landestheater Tübingen (LTT) ist die größte Bühne in der 90.000-Einwohner-Stadt. Intendant Thorsten Weckherlin (58) ist der erste Bühnenchef deutschlandweit, der wieder Theater machen darf – für zunächst drei Wochen, bis Ostersonntag. Das macht der gebürtige Hamburger gern und mit Verve – und mit einem vom Tübinger Tropenmedizinischen Institut abgesegneten Gesundheitskonzept. Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sprach mit dem studierten Literaturwissenschaftler und gelernten Journalisten, der auch im Präsidium des Deutschen Bühnenvereins, des Dachverbands der Theater, sitzt, über das Anspielen gegen die Zeit und das Diktat der Inzidenzen.

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Herr Weckherlin, wie funktioniert das Tübinger Theatermodell?

Thorsten Weckherlin: Das ist zügig erklärt: Schnelltest, Schnelltest, Schnelltest. Das Tübinger Modell sieht vor, dass bis zu 100 Zuschauerinnen und Zuschauer zu uns kommen können. Die haben die Möglichkeit, eine Stunde vor Vorstellungsbeginn sich bei uns vor dem Haupteingang schnelltesten zu lassen. Das bekommen das Deutsche Rote Kreuz und ein Labor mit drei Mitarbeiterinnen hin – 100 Leute innerhalb einer Stunde ohne Zeitdruck.

Die Besucherinnen und Besucher haben die Möglichkeit, sich in unserer eigenen Außengastronomie bei sechs Grad plus und ein wenig Graupelschauer noch schnell ein Glas Bier oder ein Glas Sekt zu gönnen. Dann gehen sie mit eiskalten Fingern in das beheizte Foyer. Das ist mit den Absperrbändern aufgeteilt, die man von Flughäfen kennt – und von dort werden die Leute dann in den Zuschauerraum geleitet. Normalerweise bietet er Platz für 368 Plätze. Mit 89 Plätzen ist derzeit der Saal ausverkauft. Die restlichen elf bestehen aus dem Personal, das direkten Publikumskontakt hat. Die werden täglich getestet.

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Die Menschen sitzen im Zuschauerraum mindestens zwei Meter vom nächsten Nachbarn entfernt. Allerdings sitzt man jeweils mit Zweierbestuhlung, sodass man mit Partnerin oder Partner den Abend genießen kann. Nach der Vorstellung, die übrigens pausenfrei sein muss – auch der Toilettengang ist perfekt organisiert – geht man wieder raus, und der Abend ist vorbei.

Kurz und gut: Pragmatismus, gesunder Menschenverstand, eine gute Lüftungsanlage und die Schnelltests machen es möglich. Der Bühnenbereich ist übrigens bis zur dritten Sitzreihe gesperrt. So haben Aerosole auch bei Gesang keine Chance. Bisher gab es nicht einen einzigen positiven Testfall.

Der Intendant des Landestheaters Tübingen (LTT), Thorsten Weckherlin, kann wieder vor Publikum spielen lassen – wenn auch nur in einem Feldversuch.

Der Intendant des Landestheaters Tübingen (LTT), Thorsten Weckherlin, kann wieder vor Publikum spielen lassen – wenn auch nur in einem Feldversuch.

Die Inzidenz ist ja nur eine von vielen roten Linien, die die Regierung im Kampf gegen Corona bislang gezogen hat. Wie aussagekräftig ist sie denn überhaupt, um sicher eine Publikumsveranstaltung durchführen zu können?

Dadurch, dass sich Tübingen in erster Linie nicht auf den Inzidenzwert konzentriert, sondern auf differenzierte Maßnahmen wie Schutz der Alten und permanentes Testen setzt, schafft man es eben auch, eine Bühne zu öffnen. Deshalb hoffe ich, dass unser dreiwöchiger Feldversuch, der unabhängig von der Inzidenz ablaufen darf, ein ermutigendes Signal aussendet und wir auch bundesweit für die Öffnung von Theatern kämpfen könnten.

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Welche Rolle spielt denn das Uniklinikum bei diesem Feldversuch?

Wenn hier jemand positiv getestet wird, dann läuft das über das Institut für Tropenmedizin. Dessen Chef, Professor Peter Kremsner, überwacht das alles und kriegt jede positive Testnummer. Anhand dieser Testnummer lässt sich dann, gemeinsam mit dem Gesundheitsamt, die individuelle Nachverfolgung des Falls aufnehmen.

Das läuft alles ganz pragmatisch. Sie kaufen zu Hause am Rechner über Print-at-home ihre Theaterkarte. Jeder Karte sind dann Name, E-Mailadresse und Platznummer zugeordnet. Im Falle eines Falles wäre also auch die Sitzposition im Theater nachvollziehbar. In diesem Fall wird das ja aber gar nicht zwingend benötigt, weil man ja vorher einen Schnelltest gemacht hat.

Da hört man aber implizit schon den Aufschrei der Datenschützer.

Ja, aber mit Verlaub – auch da müssen wir pragmatisch sein. Die Daten werden ja nur im Fall einer Infektion weitergegeben. Wir speichern ja nicht auf riesigen Festplatten die Schuhgrößen der Besucher. Aber wir hätten durch das Onlineticketing die Möglichkeit, den Käufer – wie bei jeder Transaktion im Internet – im Zweifel anzurufen und zu sagen, da stimmt was nicht. Aber wer getestet ist, braucht sich noch nicht einmal auszuweisen am Eingang – denn er hat ja nach einem Negativtest das „Tübinger Tagesticket“, ein schlichtes Stück Papier mit dem aktuellen Datum. Das reicht uns.

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Im Übrigen ist die Stadt so klein, da kennt man sich – und wird schon mal geradezu ausgerufen. Als ich neulich einen meiner zahlreichen Tests an dem Testmobil auf dem Rathausmarkt gemacht hatte, rief jemand: „Der Intendant ist negativ.“ Da wussten die Umstehenden dann gleich Bescheid.

Auf die Großstadt ist das Konzept natürlich nicht eins zu eins zu übertragen. Aber manches bleibt doch gleich. All den Intendanten, die mich jetzt anrufen und fragen, wie macht ihr denn das, kann ich nur immer wieder sagen: Fangt klein an, richtet euch nach dem 100er-Modell. In einem großen Haus oder einer Oper mit 1200 Plätzen wäre das natürlich Schwachsinn. Aber für klassisches Schauspiel, etwa bei Privattheatern wie bei den Hamburger Kammerspielen, oder für die Studiobühnen großer Häuser, wie dem Thalia Theater, ist das wirklich praktikabel.

Wie reagiert denn das Publikum?

Ich hatte bei der Eröffnung am vergangenen Dienstag das Gefühl, in einem Science-Fiction-Film zu sein. Draußen vor dem Theater waren so aseptische, weiß erleuchtete Zelte aufgebaut, da gingen die Menschen hinein, gingen durch eine Schleuse – und kamen auf der anderen Seite lächelnd wieder raus. Als hätten sie eine Injektion bekommen oder wären gechipt worden. Aber nein, sie haben nur ihr Testergebnis bekommen und gehen fröhlich in die Vorstellung.

Klingt nicht gerade nach Hexenwerk.

Nein, es ist einfach, es ist machbar.

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Für die subventionierten Staatstheater und für die wenigen glücklichen Zuschauer klingt das fantastisch. Aber für die zahlreichen Privattheater, die von ihren Einspielergebnissen leben, sind 85 zahlende Besucher doch nur mehr ein Tropfen auf den heißen Stein.

Das stimmt, das ist die Hölle. Ich spreche hier in der Tat aus einer Luxusposition heraus. Wir sind ein staatlich subventioniertes, tarifgebundenes Theater. Das heißt, ich brauche mir nicht die Sorgen zu machen, wie eine private Bühne, für die sich der Verkauf weniger Plätze nicht rentiert. Aber für die tarifgebundenen Häuser – und das sind immerhin auch sehr viele in Deutschland – ist es einfach ein erster Schritt.

Und ich verstehe nicht, warum sich die Intendanten derzeit nicht durchsetzen können bei den Trägern, sprich bei den Kommunen, bei den Oberbürgermeistern oder in den Kulturministerien der Länderregierungen: Es ist einfach, es ist praktikabel. Es ist ein kleiner Schritt. Er bringt nicht viel Geld. Aber es ist ein Schritt in Richtung normales Leben – zusammen zu kommen oder alte Begriffe wie „wir gehen heute Abend mal aus“ wieder einmal zu realisieren.

Der psychologische Effekt der Wiederöffnung ist sicherlich wesentlich höher als der materielle. Erhält das Konzept zu wenig politische Aufmerksamkeit?

Unbedingt. Aber was mich ungeheuer nervt: Es ist die Zeit der Nörgler, die permanent fragen, „was passiert denn, wenn die Inzidenz in Tübingen über 100 geht – in der Stadt liegt sie derzeit bei rund 40? Können wir dann einfach weiter wie auf einer Insel der Glückseligen Theater machen?“ Ich würde sagen, ja.

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Denn das hat nichts mit der Inzidenz zu tun. Ich finde es genau richtig, dass wir unabhängig vom Inzidenzwert agieren können. Das ist endlich mal ein differenzierter Blick auf die ganze Chose. Es ist ungemein wichtig, endlich wieder einmal zusammen zu kommen und sich treffen zu können – in einer absolut sicheren Umgebung. Aber diese Bedenkenträger, die einem permanent mit den aktuellen Inzidenzzahlen vor der Nase rumwedeln, die machen mich wirklich wütend.

Was ist denn nun das erste Stück, das auf einer deutschen Bühne gespielt wird?

Ach, das ist völlig durchgeknallt, Unterhaltung pur – und ein Resultat unserer Zwangspause. Wir hatten in jenen fünf Monaten durchgearbeitet. Ich hatte Panik, dass wir einrosten. Natürlich ist die Technik teilweise in Kurzarbeit gegangen – aufgestockt auf 100 Prozent des Lohns, ein wahrer Luxus in diesen Zeiten – wir haben auch interne Premieren gehabt, also theatralische Geisterspiele. Die Schauspieler waren total genervt, wenn ich als sogenanntes Publikum gejubelt habe. Für die war das wie das Gebrüll des Trainers an der Seitenlinie. Unter den geprobten Stücken war eben auch die Produktion „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“, eine Musikrevue der Neuen Deutschen Welle. Sie spielt im Alten Wasserwerk in Bonn, dem damaligen Bundestagsersatz. Ein Pärchen trifft sich dort zum Schäferstündchen und sieht nachts plötzlich lauter Politzombies: Helmut Kohl, Helmut Schmidt, Norbert Blüm, Petra Kelly, Franz-Josef Strauß und Hans-Dietrich Genscher.

Die stehen dann als Band an ihren Instrumenten, spielen die Hits der Neuen Deutschen Welle – und zwischendurch gibt es die alten Originalzitate aus dieser Hochzeit des Parlamentarismus, die Duelle zwischen Strauß und Schmidt, Kelly und Kohl. Ein vergnüglicher Abend mit Hintersinn, der aber vor allem den Leuten die Lust am Theater, am Ausgeherlebnis wiederbringen soll. Unsere Premiere hat die Kollegin Christine Keck von der „Stuttgarter Zeitung“ mit einem der schönsten Startsätze einer Theaterkritik, die ich kenne, beschrieben: „Was anfängt mit einem negativen Schnelltest und aufhört mit einem tanzenden Oberbürgermeister als Zugabe, ist ein Theaterabend, der sich einbrennt ins Gedächtnis wie ein erster Kuss.“

Da hatte ich Gänsehaut. Das ist genau der Grund, warum ich fürs Theater arbeite.

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Wenn man sich handelnden Akteure des Tübinger Modells anschaut, Oberbürgermeister Boris Palmer, den Chef des Tropeninstituts Kremsner, den Intendanten und die Notärztin Lisa Federle, die das Testkonzept entwickelte – dann hat das schon etwas von dem kleinen gallischen Dorf.

Da ist ein bisschen was dran. Und Lisa Federle, die ist wunderbar. Die benennt die Dinge auch schon einmal deftig präzise: „Jeder verlangt hier hundertprozentige Sicherheit, was für ein Quatsch. Kein Kondom ist hundertprozentig sicher.“ Palmer, Federle und Kremsner – das sind schon die drei, die gesagt haben, wir schauen mal, wie wir in einem Mikrokosmos wie Tübingen eine gute Teststrategie aufbauen können.

Noch ein Beispiel für die Fragwürdigkeit der Inzidenzen. Rund 150 Kilometer von Tübingen entfernt, an der deutsch-französischen Grenze, liegt das Städtchen Rust mit etwa 4250 Einwohnern. Es ist bekannt für den riesigen Vergnügungskomplex „Europa-Park“. Die Inzidenz dort geht auf über 100, wenn eine dreiköpfige Familie Corona hat. Muss deswegen wirklich der Europapark geschlossen bleiben?

Ist das Modell denn exportfähig – etwa für ganz Deutschland?

Ich glaube, der ganze Zauber des Tübinger Modells liegt darin, dass wir – ob Oberbürgermeister oder Intendant – den einzelnen Menschen ernst nehmen. Wir glauben, dass jeder Mensch auch in der Lage ist, eigenverantwortlich zu handeln. Und übertragen auf die Kultur heißt das: Die Theater in Deutschland müssen endlich aus der Deckung kommen. Ihre Aufgabe ist es: spielen, spielen, spielen. Und davor heißt es: testen, testen, testen. Lasst uns kleine, pragmatische Schritte in Richtung Normalität gehen – es ist alles kein Hexenwerk.

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