Abba: ein zögerliches Comeback – mit einer Menge offener Fragen
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Björn Ulvaeus, Agnetha Fältskog, Benny Andersson und Anni-Frid Lyngstad als digital verjüngte Versionen von Abba – mit diesen „Abbataren“ will die Band nun auf Tour gehen.
© Quelle: Industrial Light And/PA Media/dp
Omma Mia! Sie haben‘s also doch noch gemacht. Da saßen vor einer Londoner Fernsehfrau mit Blick auf die eigene Londoner Abba-Konzerthalle Björn Ulvaueus (76) und Benny Andersson (74) und waren endlich, endlich, endlich wieder Abba. Verkündeten für den 5. November ein neues Album namens „Voyage“ – für das Weihnachtsgeschäft ist auch ein Weihnachtslied drauf – und den Kartenvorverkaufsstart für die Konzerte für den 7. September. Man scherzte, dass bei einer Band nie mehr als 40 Jahre zwischen zwei Alben vergehen sollten und dass sich die Damen anders als die Herren für das Motion-Capture-Verfahren nicht rasieren mussten. Die Damen waren ja auch nicht in London dabei und mussten sich diesen blöden Machospruch irgendwoanders vorm Bildschirm anhören.
Zu scheu, um Abba auch wieder für die Medien zu sein? Das Fehlen von Agnetha und Anni-Frid war schade und trübte sicherlich auch, wenn auch nur minimal, die Wiedersehensfreude der Millionen Altfans und der Millionen Jung- und Ganzjungfans, die sich an Eventorten wie Reykjavik, New York, Berlin, Wien und Rio de Janeiro eingefunden hatten oder den Livestream verfolgten. Überhaupt: Motion Capture? Das ist doch das, was man mit dem Schauspieler Andy Serkis gemacht hatte, damit der digitale „Herr der Ringe“-Kobold Gollum und der Monsteraffe King Kong auf der Leinwand lebendig herüberkommen? Nein, Abba touren nicht als Lebewesen, sondern es stehen, wenn die Showphase in London beginnt (Termine in Kürze), ihre digitalen Ebenbilder auf der Bühne – die Abbatare genannten Avatare. Die konnte man auf der Riesenleinwand in Stockholm am Ende des neuen Songs „I Still Have Faith in You“ sehen.
Abba-Revival Anfang der Neunziger
Agnetha Fältskog (71), Anni-Frid Lyngstad (75), Björn Ulvaeus (76) und Benny Andersson (74) waren da wieder jung wie 1979. Die Haut wirkte etwas porzellanglatt, und die Augen – nun ja, was bei Gollum und Kong funktioniert, klappt bis heute nicht so recht bei Menschen. Der menschliche Held aus dem schöne Märchenfilm „Polarexpress“ wirkte ebenso augentot wie die Figuren aus der erst vor ein paar Wochen gestarteten Sci-Fi-Animatiosserie „Resident Evil“. Und man wird das Defizit zum echten Leben erkennen können, wenn die Abbatare auf einer Riesenleinwand im Londoner Abbadrom zu sehen sein werden. Aber wir Abbafans werden da vielleicht den Tränenfilm des Glücks in den Augen haben.
Wer hätte es gedacht? Als nach den Singles „Under Attack“ und „One of Us“ Anfang der Achtzigerjahre tatsächlich nichts mehr an Hits kam aus unserer schwedischen Lieblingshitschmiede, wurde es zehn Jahre lang zunächst ruhiger um Abba. Andere Pop- und Rockkünstler und -gruppen übernahmen die Vorherrschaft in den Charts der Welt. Als aber die australische Tributeband Björn Again zu den Instrumenten griff, und vor allem im Frühsommer 1992 das angesagte Synthpopduo Erasure um Sänger Andy Bell und den früheren Depeche-Mode-Mastermind Vince Clark die EP „Abba-esque“ mit vier Abba-Coverversionen herausbrachten, stieß das ein denkwürdiges Revival an.
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Abba wehrte sich lang gegen ein Comeback
Das Hitalbum „Abba Gold“ erschien kurz darauf im September, verkaufte 31 Millionen Exemplare und ist seit Juli 2021 mit insgesamt 1000 Wochen das am längsten platzierte Album in den britischen Hitparaden. Selbst härteste Rocker outeten sich als Abba-Fans. Und als U2 1993 auf ihrer Zooropa-Station im Londoner Wembley-Stadion „Dancing Queen“ anstimmten, sangen Zigtausende Briten den Abba-Song von der ersten bis zur letzten Zeile mit.1999 startete das Abba-Musical „Mamma Mia!“, dessen Verfilmung 2008 in London stattfand und mit Meryl Streep und Pierce Brosnan Weltstars im Ensemble hatte. Doch was machte die Band? Abba lehnte astronomischste Supersummen für ein klein bisschen Wiedervereinigung ab.
Abba haben es am Ende sogar in die Rock-‘n‘-Roll-Hall-of-Fame geschafft. „Das ist die echte Hall, in der die Legenden sind: Elvis, Beatles, Chuck Berry, Brian Wilson“, freute sich Benny Andersson damals, 2017, in einem Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Verrückt. Wir sind die einzige Band da dri, die nicht aus Amerika oder England kommt.“ Als Stimmberechtigter stimmte er daraufhin Jahr um Jahr für die deutsche Band Kraftwerk (und dieses Jahr werden die Düsseldorfer Elektroniker endlich, endlich, edlich aufgenommen).
So sind die neuen Songs
Die neuen Songs? Man muss sie noch ein wenig sacken lassen. „I Still Have Faith in You“ ist eine etwas komplexere Ballade mit einer Melodie, die man nicht gleich nachpfeifen kann, „Don‘t Shut Me Down“ erinnert ein bisschen an „Dancing Queen“. Auf den ersten Horch ist das nicht so temperamentvoll wie „S.O.S.“ oder „Mamma Mia“, nicht so melodiesüffig wie „Take a Chance on Me“ oder „Super Trouper“. Abba, das darf man nicht vergessen, sind die Leute, die „I Have a Dream“ geschrieben haben, „Fernando“ oder das zarte „Like an Angel Passing Through My Room“. Wird schon werden, denkt man dann. Die Rockballade „Eagle“ hatte auch ein paar Läufe durchs Ohr gebraucht, bis sie sich als eins der prächtigsten Abba-Werke überhaupt in Hörers Kopf verankerte. Immerhin haben diese Abba-Lieder die Zustimmung aller Bandmitglieder, nicht wie damals bei den Beatles, als von den Überlebenden Mitte der Neunzigerjahre zwei John-Lennon-Songs durch Jeff Lynnes Produzentenmangel gedreht wurden, um noch was Neues für das Beatles-„Anthology“-Projekt zu haben.
Wollen wir das Comeback des Jahrzehnts jetzt vermiesen, oder was? Keinesfalls. Dazu sind wir viel zu Abba-phil. Aber jeden Abba-Liederabend, an dem die vier Popstars mit ihren Lebensfalten leibhaftig auf einer Bühne gestanden hätten, und ihre Songs ein wenig zu Cello und Piano heruntergedimmt hätten, wäre uns lieber gewesen als ein Abend mit der besten Bühnentechnik aller Zeiten, an dem uns vier ewig junge Computergestalten daran erinnern, dass wir zumindest nicht jünger werden. So nehmen wir notgedrungen, was wir kriegen können, und hoffen, uns auf den zweiten Blick neu verlieben zu können. Wie Abba das in „Mamma Mia“ sangen: „One more look and I forget everything“.