Ein Jahr Lockdown: So kämpft die Musicalbranche ums Überleben
Das leere Stage Operettenhaus während des Lockdowns in Hamburg.
© Quelle: Geraldine Oetken
Hamburg. Steffen Riese steht in einem dunklen Loch. Der Strahl seiner Taschenlampe blitzt umher, bekommt hie und da mal eine Metallstrebe zu fassen, aber der Raum scheint kein Ende zu haben. Die Decke ist allenfalls zu erahnen. Riese, technischer Leiter des Hauses, steht in seinem seit einem Jahr verlassenen Operettenhaus in Hamburg. Wo eigentlich in einer Garderobe glitzernde Tina-Turner-Outfits hängen sollten, liegen blaue Müllsäcke, um den Staub abzuhalten. „Das fühlt sich jetzt an wie ein Lost Place“, sagt Riese in die Stille hinein.
Seit einem Jahr ist das Stage Operettenhaus in der Nähe der Tanzenden Türme auf St. Pauli dicht – wie viele Spielstätten in ganz Deutschland. Selbst während der Lockerungen im Sommer war hier nichts los – die erlaubten Teilnehmerzahlen waren zu gering. Eine Show hätte sich finanziell nicht gelohnt. Am 12. März sind die Vorhänge das letzte Mal gefallen. Seitdem liegen die Häuser in einer Art Dornröschenschlaf.
Als der Lockdown kam, machten alle noch Witze
Kristina Love folgt dem Lichtstrahl von Steffen Riese. Sie kennt hier jeden Winkel des Theaters als Hauptdarstellerin von „Tina“ – dem Musical über das Leben von Superstar Tina Turner. Und auch sie ist jetzt zurückhaltend. „Mir fehlen die Worte“, sagt sie leise in ihre Maske hinein. Gemeinsam mit Stephan Jaekel, Pressesprecher der Musicalproduktionsfirma Stage Entertainment, der dieses Haus gehört, biegen sie auf die Bühne ab. Reste einer Bandausstattung stehen auf einem Podest am hinteren Bühnenrand. Als Riese den Eisernen Vorhang hebt, klackt das Warngeräusch durch den leeren Saal.
Musicaldarstellerin Kristina Love während des Lockdowns im Stage Operettenhaus Hamburg
© Quelle: Geraldine Oetken
Stage Entertainment ist der größte Musicalproduzent in Deutschland. Er betreibt mit 1700 Mitarbeitern elf Theaterhäuser, fünf davon in Hamburg. Normalerweise spielt das Unternehmen mit Shows wie „König der Löwen“, „Wicked“ oder eben „Tina“ 300 Millionen Euro Jahresumsatz ein. Aber normal ist seit Freitag, dem 13. März 2020, dem Tag des ersten Lockdowns, nichts mehr. „Heute Abend spielen wir nicht mehr, wurde da plötzlich gesagt“, erinnert sich Steffen Riese und lehnt an einem Sessel im Parkett, nachdem er das Licht eingeschaltet hat. „Alle haben gedacht, man würde jetzt nur mal eine Pause von zwei Wochen einlegen – und noch Witze gemacht: ‚Wir sehen uns dann Ostern.‘ ‚Haha, welches Jahr?‘“ Diese Frage, in welchem Jahr man sich wiedersieht, ist nun kein Witz mehr. Die meisten Mitarbeiter sind seitdem in Kurzarbeit, auch die Darsteller.
Die Lockerungen bringen keine Hoffnung
Doch seit Kurzem gibt es endlich wieder Perspektiven. Theoretisch zumindest: Bund und Länder haben sich am 3. März darauf geeinigt, dass Theater und Konzerthäuser wieder ab dem 22. März öffnen können, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz 14 Tage lang unter 50 bleibt. Bei einer Inzidenz zwischen 50 und 100 müssten Besucher dann einen negativen Corona-Test vorlegen.
Für die Veranstaltungsbranche ist das noch kein Lichtblick. Denn viele Unternehmen werden, selbst wenn sie dürften, keine Shows ab dem 22. März spielen. Und das hat vielerlei Gründe. Der eine Faktor ist die Zeit: „Wir brauchen sechs bis acht Wochen, um den Betrieb für eine Show wieder hochzufahren“, erklärt Jaekel. Doch vor allem finanzielle Bedenken stehen einer Wiedereröffnung im Weg. Denn wenn zwischen den Besuchern ein Abstand von 1,50 Meter eingehalten werden muss, lohnt sich die Show einfach nicht: „Wir brauchen eine Auslastung von mindestens 60 Prozent pro Show“, sagt Jaekel. Dazu kommt das Risiko: Wenn ein Veranstalter den Betrieb wieder hochfährt, die Mitarbeiter aus der Kurzarbeit holt, hat er neue Ausgaben. Gleichzeitig kann es aber jederzeit sein, dass das Event wieder abgesagt wird, wenn die Inzidenzzahlen zu stark steigen.
Eventbranche hofft auf Ausfallversicherung vom Bundesfinanzministerium
Der wirtschaftliche Druck ist groß. Anders als beispielsweise Staatstheater werden Musicalhäuser meist privat betrieben. Auch bei einem Branchenriesen wie Stage Entertainment sind inzwischen die finanziellen Reserven aufgebraucht – selbst im Stand-by-Modus benötigt das Unternehmen laut Jaekel noch 5 Millionen Euro pro Monat für den laufenden Betrieb. Viele Rechnungen laufen weiter.
Derzeit kommt die Finanzspritze per Darlehen vom Eigentümer Advance Publications in den USA. Der Staat greift beim Kurzarbeitergeld unter die Arme und es gibt Aussichten auf einen Anteil an der „Kulturmilliarde“ von Bundeskulturministerin Monika Grütters. Da könnte es pro Spielstätte maximal 100.000 Euro für pandemiebezogene Investitionen geben.
Doch gibt es Ideen, die der Veranstaltungsbranche beim Planen Sicherheit geben könnte. Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat schon vor Weihnachten eine Art Ausfallversicherung angekündigt. Die soll genau dann greifen, wenn ein Veranstalter in ein Event investiert hat, dieses aber coronabedingt ausfallen muss. Doch sind den Worten noch keine Taten gefolgt.
Alexander Klaws: „Es wird mehr Sparproduktionen geben“
Selbst wenn sich die Häuser wieder füllen, wird dann alles beim Alten sein? Alexander Klaws kennen viele als ersten Gewinner des TV-Castings „Deutschland sucht den Superstar“ von 2003, doch stand er seitdem auch auf vielen Musicalbühnen, unter anderem als Hauptdarsteller von „Tarzan“ und „Tanz der Vampire“. Der 37-Jährige sieht die Zukunft der Musicalbranche nicht unbedingt rosig. „In den vergangenen Jahren gab es bereits einen Sparkurs zulasten der Qualität. Jetzt kam die Pandemie. Ich glaube, dass es in Zukunft noch mehr von solchen Sparproduktionen geben wird“, sagt er in einem Videocall gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Er selbst sucht gerade kein Engagement. Er konzentriert sich auf sein anderes Standbein: die Musik.
Die ist auch Diana Babalolas Hoffnung. Sie macht in diesem Sommer bei der Stage School, einer Privatschule für Musicalausbildung, die nicht mit Stage Entertainment verbunden ist, ihren Abschluss. „Ich habe noch von keinen Jobangeboten gehört“, sagt die 28-Jährige. Dennoch habe sie keine Angst vor der Zukunft, wie sie im Videocall erzählt. „Wenn es dann noch nicht weitergeht, kann ich Gesangsunterricht geben. Das geht auch per Skype“, sagt sie. In der Schule bestand ein neuer Jahrgang 2020 noch aus 100 Schülern, das berichtet der Geschäftsführer der Privatschule, Thomas Gehle, in einem Telefonat. „In diesem Sommer werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach nur 50 neue Schüler haben.“ Noch habe die Schule keine Probleme, doch sollte der Trend anhalten, sehe das anders aus.
Musicals müssen die Massen bedienen
Musicals sprechen als Populärkultur die Massen an – und sie können sich nicht den Luxus leisten, allein ein Nischenpublikum zu bedienen, wie subventionierte Theater oder Opern. So steht der Spielplan auch schon inhaltlich, wenn es denn weitergehen sollte, mit bereits zuvor bewährten Stücken und neuen Publikumsgaranten wie Disneys „Die Eiskönigin“. Das Märchen sollte ursprünglich im März 2021, also jetzt, Deutschland-Premiere feiern. Noch im Mai 2020 hoffte Geschäftsführerin Uschi Neuss in einem Interview auf die Wiederaufnahme des Spielbetriebs im September. Einen offiziellen neuen Termin gibt es nun immer noch nicht, doch werden immerhin wieder neue Darsteller gesucht. Im April sollen nun die Auditions starten. Ende 2021 soll auch noch der US-Erfolg „Hamilton“ kommen, ein Musical über den amerikanischen Gründungsvater Alexander Hamilton. Das wurde erst Ende 2020, also mitten im Lockdown, bekannt gegeben.
Ein Produzent wie Stage Entertainment geht, gerade zurzeit, kein Risiko ein. Gleichzeitig nagt die Krise an der Substanz. Das Unternehmen hat bereits 30 Mitarbeitern gekündigt, einem Drittel der Belegschaft in der Verwaltung. Kunden können zwar bereits gekaufte Tickets zurückgeben, aber nur gegen Gutscheine, und – außer in Härtefällen – nicht gegen Geld. Kritik steckt das Unternehmen dafür bis heute ein, vor allem in den sozialen Medien. Darauf angesprochen geht der Pressesprecher in die Defensive. Staatliche Theater könnten es sich leisten, Tickets zurückzuerstatten. Und das Unternehmen würde dies in Härtefällen ja auch tun. 600.000 Kunden waren nach Angaben von Stage Entertainment von ausgefallenen Shows betroffen. Das günstigste Ticket für „Tina“ kostet beispielsweise 65,95 Euro. Wenn diese 600.000 Besucher alle nur dieses Ticket gekauft hätten, müsste das Unternehmen im Falle einer Rückerstattung immer noch fast 40 Millionen Euro an die Kunden zahlen.
Sorgen um den Musicalstandort Hamburg
Schon vor dem Lockdown gab es eine Fokussierung auf Hamburg: Stage Entertainment hat die beiden Häuser in Essen und Oberhausen aufgegeben. Ursprünglich war im Gegenzug sogar eine weitere Spielstätte in Hamburg geplant, die Pläne liegen aber erst mal auf Eis. Die Perle im Norden soll eine Musicalmetropole wie New York oder London werden. Immerhin gehen dort schon jährlich nach Informationen von Hamburg Marketing zwei Millionen Besucher in eine Musicalshow. Doch diese Entwicklung könnte gefährdet sein. „Ich mache mir eigentlich keine Sorgen. Aber wenn man hört, wie pessimistisch die Einzelhändler hier in Hamburg ihre Zukunft sehen, dann fängt man natürlich schon an, sich Gedanken zu machen“, so Stephan Jaekel. Denn viele Besucher würden einen Wochenendtrip nach Hamburg zusammen mit einem Musicalbesuch planen, weswegen sich die Häuser im Ruhrgebiet auch nicht gehalten hätten. Wenn aber die Läden in der Stadt fehlen, wird das mit dem Gesamtpaket schwierig.
Steffen Riese ist der Technische Leiter im Stage Operettenhaus. Er macht das Licht wieder aus.
© Quelle: Geraldine Oetken
Zurück im Operettenhaus ist Kristina Love über eine kleine Seitentreppe wieder auf die Bühne geklettert. Ihre Bewegungen werden automatisch größer. Mit ihren Gesten scheint sie die Welt umarmen zu wollen. „Am meisten vermisse ich meine Kollegen. Das ist meine Familie“, sagt die gebürtige US-Amerikanerin. Der fehlende Applaus, die Anerkennung sei ihr nicht wichtig. „Die Leute sollen wieder drei Stunden lang ihren Alltag vergessen können.“ Das sei doch gerade so zentral. „Wenn die Kultur weg ist, merkt man das erst einmal nicht. Das ist wie beim Sauerstoffmangel“, sagt sie in den leeren Raum hinein. Ohne die Kultur, da würde es dunkel werden.
Auf dem Weg nach draußen nimmt Love noch eine Tüte mit persönlichen Erinnerungen aus ihrer Garderobe mit. Gemeinsam mit Stephan Jaekel macht sie sich auf den Weg zurück nach draußen in das Licht der untergehenden Märzsonne. Nur Steffen Riese bleibt noch zurück. Der muss noch das Licht ausmachen.